Neues Wahlrecht gegen Blockade und Lähmung

Eine ernsthafte Diskussion über Demokratiereform statt Beharrlichkeit.

Wenige Wochen vor den Nationalratswahlen verhinderten im Juli 2013 angesehene Persönlichkeiten – noch dazu ausgewiesene Verfassungsexperten wie Bundespräsident Heinz Fischer und der langjährige Nationalratspräsident Andreas Khol – durch ihre Wortmeldungen den Beschluss, die direkte Demokratie durch verpflichtende Volksbefragungen nach einem qualifiziert unterstützten Volksbegehren zu stärken.

Im Mai 2015 meldete sich Andreas Khol beim ÖVP-Bundesparteitag zu Wort, um einen Parteitagsbeschluss für ein von der Parteijugend beantragtes mehrheitsförderndes Wahlrecht zu verhindern, das zugleich kleineren Parteien eine Koalitionschance eröffnen würde. Mehr als 66 Prozent der Delegierten – darunter auch Parteiobmann Reinhold Mitterlehner – stimmten für den Antrag der Jungen. Es fehlte nur eine Stimme.

Genauso wie Fischer, Khol und Co. in ihrem bewahrenden Bestreben die Sorge um die Demokratie umtreibt, gibt es andere erfahrene Politiker und Verfassungsrechtler, wie Heinrich Neisser, Franz Vranitzky, Theo Öhlinger, Franz Fischler, die aus demselben Motiv für eine Wahlrechts- und Demokratiereform eintreten. Vizekanzler Mitterlehner antwortete in einem Zeitungsinterview auf die Frage, ob das „jetzige System“ in Bezug auf das Wahlrecht „lähmend“ sei: „Ja, das finde ich auch.“

„Der Feind im eigenen Bett“

Auf Bundesebene stehen sich mit ÖVP und SPÖ von 1945 an zwei politische Lager gegenüber, die wechselseitig den Führungsanspruch erheben und oft diametral entgegengesetzte Positionen vertreten. Dies sorgte von Anfang an für Blockaden, Stillstand und Koalitionskrisen. Sogar in der heute verklärten „goldenen Zeit“ der „Großen Koalition“ von 1945 bis 1966 kam es mit Ausnahme des Jahres 1949 bei allen anderen fünf Nationalratswahlen zu Vorverlegungen aufgrund von Koalitionshader (und ständiger Lauer, ob und wann man in einer Pattsituation gegenüber dem Koalitionspartner – dem „Feind im eigenen Bett“ – einen kleinen taktischen Vorteil erzielen könnte).

Ständige Talfahrt seit 1986

Zwischen 1966 und 1986 gab es Alleinregierungen von ÖVP und SPÖ und eine „kleine SP/FP“-Koalition. Nach der Nationalratswahl 1986 wurde wieder eine „Große Koalition“ gebildet – mit dem Ergebnis einer ständigen Talfahrt für beide Parteien und der Wahlbeteiligung sowie dem Anwachsen des Protests. 1986 erhielten SP und VP bei einer Wahlbeteiligung von 90,46 Prozent noch gemeinsam 84,41 Prozent der Stimmen, 2013 waren es bei einer Wahlbeteiligung von 74,9 nur noch 50,3 Prozent.

Die Zahl der Nicht- und Ungültigwähler war erstmals größer als die Stimmenanzahl der stärksten Partei. Für 2018 wäre bei Fortschreibung dieser Politik wohl damit zu rechnen, dass SP und VP, die jahrzehntelang über die Verfassungsmehrheit verfügten, gar keine gemeinsame einfache Nationalratsmehrheit mehr zustande bringen und einen dritten Koalitionspartner brauchen – mit der trüben Aussicht auf noch mehr politische Lähmung, mehr faule Kompromisse und mehr Koalitionsstreit.

Das von der Jungen ÖVP vorgeschlagene Modell, nämlich, dass die stärkste Partei ein Mandat weniger als die absolute Mehrheit erhält und somit zu einer Koalition gezwungen ist, das der Autor dieser Zeilen auf Basis der Grundsatzarbeit von Klaus Poier entwickelt hat, hätte 2013 statt der alternativlosen SP/VP-Zwangskoalition fünf Koalitionsoptionen eröffnet. Es gibt natürlich auch andere mehrheitsbildende und persönlichkeitsorientierte Modelle. Es geht also darum, die Diskussion ernsthaft fortzusetzen, beim Wahlrecht genauso wie bei der direkten Demokratie.

Herwig Hösele ist Sekretär der Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2015)

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