Ukraine: Für Reformen gibt es kein Drehbuch

Gastkommentar. Solange die Regierung in Kiew oligarchische Interessen vertritt, gibt es wenig Chancen auf Wandel. Aber allein Reformen könnten die Bedingungen für eine wettbewerbsfähige und dynamische Marktwirtschaft schaffen.

Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, waren die beiden osteuropäischen Nachbarn Ukraine und Polen wirtschaftlich in etwa auf demselben Niveau. Beide Länder hatten dem Comecon, dem von Moskau gesteuerten „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, angehört.

Das Durchschnittseinkommen lag in der unabhängig gewordenen Ukraine geringfügig unter dem in Polen, die ehemalige Sowjetrepublik war aber ein potenziell reicherer Staat als der Nachbar im Westen. Die Ukraine hatte eine stärkere industrielle Basis und verfügte über reiche Bodenschätze. Fruchtbare Böden, ein günstiges Klima und schier unendliche Anbauflächen hätten für eine blühende Landwirtschaft sorgen können. Nicht umsonst galt die Ukraine als „Kornkammer“ der UdSSR.

Schlechte Aussichten

Ein Vierteljahrhundert später ist alles anders. Man kann sich kaum einen größeren Unterschied vorstellen als den zwischen der Ukraine und Polen. Während Polen sich dank einer dynamischen Wirtschaft steigenden Wohlstands erfreut und politisch an Einfluss gewonnen hat, ist die Ukraine zurückgefallen.

Die Produktion in der Ukraine sank um ein Drittel, das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nur noch ein Drittel von dem in Polen. Und die Aussichten sind schlecht. Der militärische Konflikt im Osten des Landes lähmt Politik und Wirtschaft. Eine galoppierende Inflation und der ständige Rückgang des Handels werden die Wirtschaft das zweite Jahr hintereinander in einer tiefen Rezession halten. Selbst wenn der jetzige fragile Waffenstillstand halten sollte, ist vor 2017 eine Erholung nicht zu erwarten.

Was hat Polen so anders gemacht? Kann es für die heutige Ukraine ein Vorbild sein? Und was kann Europa tun, um der Ukraine zu helfen, ebenfalls auf einen Erfolgskurs zu kommen?

Die wichtigste Erkenntnis aus der Erfahrung Polens lautet: Wirtschaftlicher Aufstieg in einem Transformationsland hat tief greifende Reformen im politischen System, in den staatlichen Institutionen, im Rechtswesen und bei der Justiz zur Voraussetzung. Diese Reformen hat Polen umgesetzt und dafür eine breite Unterstützung in der Bevölkerung gefunden.

In der Ukraine aber „fehlen die sozialen und politischen Bedingungen“ für solche Reformen. Sie können im Land selbst nicht entstehen, dazu braucht es Anstöße und Hilfe von außen. Zu diesem Urteil kommt eine Studie, die das angesehene Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) im Auftrag von United Europe verfasst hat.

Freilich wird jede Bemühung vergeblich sein, solange der militärische Konflikt im Osten der Ukraine anhält und alle Kräfte des Landes absorbiert. Ohne die Überwindung der Spaltung des Landes kann es auch keinen wirtschaftlichen Aufstieg geben. Denn die industrielle Basis der Ukraine liegt im Osten, der aber fast ausschließlich von Exporten nach Russland und in die postsowjetischen Länder abhängig ist.

Offen nach Westen und Osten

Eine Reihe von wichtigen Exportgütern der Ukraine hängt unmittelbar vom russischen Markt ab, Russland ist der größte Handelspartner sowohl bei Exporten als auch bei Importen. Letztere betreffen hauptsächlich Energie.

Unglücklicherweise ist die Handelspolitik ein Teil des Konflikts zwischen Russland und dem Westen geworden. Die endlich unterzeichnete EU-Assoziierung der Ukraine wird von Moskau als feindseliger Akt betrachtet. Tatsächlich aber wird auch eine politisch nach Westen orientierte Ukraine ökonomisch weiter nach Westen und nach Osten offen sein müssen.

Die beiden Richtungen der Integration dürfen einander nicht ausschließen. Die Wiederherstellung der Verbindungen zur Eurasischen Wirtschaftsunion ist für die Ukraine lebenswichtig, den totalen Verlust ihrer östlichen Märkte könnte sie nicht verkraften. Eine Freihandelszone von Lissabon nach Wladiwostok, wie sie Wladimir Putin vorgeschlagen hat, mag eine ferne Vision sein, die Ukraine läge dann aber ziemlich zentral.

Seit den Demonstrationen auf dem Maidan hat die Ukraine sechs Milliarden Euro Finanzhilfe aus dem Westen erhalten – und sie braucht weitere finanzielle Unterstützung buchstäblich zum Überleben des Staates. Die EU sollte diese Hilfe an Kiew als Hebel benützen, um institutionelle Reformen auf den Weg zu bringen.

In Geiselhaft von Oligarchen

Eine der Wurzeln des Übels in der Ukraine ist die Verquickung von Politik und Geschäftsinteressen. Es sei „allgemein bekannt“, konstatieren die Wissenschaftler des Wiener Instituts lapidar, dass die Ukraine sich in Geiselhaft von Oligarchen befinde. Solange die Regierungen die oligarchischen Interessen vertreten, gebe es wenig Chancen auf Reformen, die allein die Bedingungen für eine wettbewerbsfähige und dynamische Marktwirtschaft schaffen könnten. Die EU müsste ihre Hilfe vom erkennbaren Willen der politischen Eliten in der Ukraine abhängig machen, die Verquickung von Politik und Geschäftsinteressen aufzubrechen. Dazu gehört auch die reguläre Besteuerung der oligarchischen Einkommen und die Enteignung illegal erworbener Vermögen.

Eines der größten Probleme der ukrainischen Wirtschaft, das aber zugleich eine Chance auf schnelle Erfolge bietet, ist die geringe Energieeffizienz und die Energieverschwendung im Land. Darauf weisen sowohl die Ökonomen des Wiener Instituts hin als auch der für Nachbarschaftspolitik zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn. Derzeit wird pro Einheit des BIP in der Ukraine dreimal so viel Energie eingesetzt wie im Westen. Ein deutlich geringerer Energieverbrauch würde auch die Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Industrie stark verbessern.

Energieeffizienz als Ausweg

Die Wiener Experten haben errechnet, dass die Ukraine mit einer Effizienz bei der Energienutzung, wie sie der Durchschnitt der EU-Länder erzielt, ihren Gasverbrauch so weit reduzieren könnte, dass sie von Gasimporten aus Russland unabhängig und im Energiesektor zu einem Selbstversorger würde.

Man braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich ausmalen zu können, welchen politischen Spielraum die Ukraine gewinnen würde, wenn sie nicht mehr mit Energielieferungen und mit Gaspreisen erpresst werden könnte.

Es gibt kein Drehbuch für die Befreiung der Ukraine aus ihrem wirtschaftlichen Elend. Es wird einen starken politischen Willen brauchen – sowohl bei den Ukrainern selbst als auch bei ihren Freunden und Gläubigern, um das Land in die richtige Richtung zu bringen und ihm zu helfen, die nötigen Reformen anzugehen.

Der Westen sollte das auch durch die Förderung der Zivilgesellschaft, von unabhängigen Medien und von Nichtregierungsorganisationen unterstützen. Die von Krieg und Entbehrung erschöpfte Bevölkerung braucht Ermutigung und Hoffnung.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Dr. Wolfgang Schüssel (*1945 in Wien) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien. Von 1989 bis 1995 war Schüssel Wirtschaftsminister, ab 1995 Parteiobmann der ÖVP; von 1995 bis 2000 Vizekanzler und Außenminister, von 2000 bis 2007 Bundeskanzler. Seit 2008 ist Schüssel Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN). [ Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2015)

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