Die Grundlagen eines Islam europäischer Prägung

Die Muslime müssen definieren, welche Zukunft sie sich in Europa wünschen und welchen Islam sie hier vertreten wollen.

Die Verabschiedung des neuen Islamgesetzes hat über Österreich hinaus teils heftige Reaktionen ausgelöst. Auf der einen Seite zeigte sich die muslimische Welt geradezu erzürnt ob des Verrats am wahren Islam, als der dieses Gesetz mit seiner Intention, dem Islam eine europäische Prägung zu verleihen, wahrgenommen wird. Österreich musste sich den Vorwurf gefallen lassen, die Islamophobie nunmehr gesetzlich verankert zu haben.

Leider wird diese Position auch von vielen in Europa organisierten Muslimen geteilt, weswegen ihnen Unbefangenheit beziehungsweise Eigenständigkeit in ihrer Argumentation weitgehend abgesprochen werden muss.

In manchen Ländern Europas wurde dagegen die Frage laut, ob ein derartiges Ansinnen überhaupt eine Chance auf Verwirklichung habe oder – wie etwa der Chefredakteur der „Presse“ meinte – es sich dabei nicht vielmehr um einen Traum handle. Unabhängig von dieser Debatte stehen wir Muslime vor der Aufgabe zu definieren, welche Zukunft wir uns in Europa überhaupt wünschen. Welchen Islam wollen wir in dieser Gesellschaft vertreten?

Welcher war der wahre Islam?

Die Behauptung, dass es nur den einen Islam gebe, kann jedenfalls weder verstandesmäßig noch mit Blick auf die muslimische Wirklichkeit aufrechterhalten werden: Wäre es so, wie ließe sich die gleich nach dem Ableben des Propheten vollzogene Spaltung, wie ließen sich die gegenwärtigen Kriege zwischen Muslimen erklären?

Wurden nicht sowohl die Familie des Propheten als auch die ersten drei der sogenannten „rechtgeleiteten Kalifen“ durch Muslime getötet? Welcher war damals der wahre Islam? Und welcher ist es heute – der saudische, der türkische, der pakistanische? Der in Wien oder der in Rakka praktizierte?

Ganz offensichtlich war und ist der Vollzug der islamischen religiösen Praxis immer kontextuell, durch die jeweilige Verfasstheit einer Gesellschaft geprägt – wobei eine Neuprägung der Glaubensgrundlagen des Islam keineswegs gleichzusetzen ist mit deren Neudefinition. Die würde etwa implizieren, dass Muslime ihre Gebete, Pilgerfahrten oder Fastenrituale zu ändern, gar aufzugeben hätten.

Eine europäische Prägung zielt weniger darauf ab festzulegen, wie man betet und fastet, sondern aus welchen Beweggründen heraus. Die Grundsätze des Glaubens blieben dabei unangetastet. Um Missverständnisse auszuschließen, seien die Grundlagen eines europäisch geprägten Islam in der Folge kurz dargestellt.
1. Im Zentrum steht der Mensch: Im Verlauf seiner Geschichte hat der Islam die Menschen aus ihrer Stammeszugehörigkeit befreit und aus dem Konstrukt des kollektiven Subjekts ein eigenständiges Individuum werden lassen. Mit dem Glaubensbekenntnis bekundet der Mensch seine Autonomie und seine Verantwortung vor Gott und der Gesellschaft. Beides befähigt den Menschen, sich Autoritäten gegenüber zu behaupten und sich für oder gegen die Religion zu entscheiden. Ein vernunftbegabter Mensch leitet seine Verantwortung aus sich selbst ab, nicht aus obrigkeitlichen oder institutionellen Zwängen. Eine islamische Theologie europäischer Prägung stellt eben diesen freien Geist in ihren Mittelpunkt.

Bekenntnis zur Pluralität

2. Ein Islam europäischer Prägung bekennt sich zur Pluralität: Als Teil der Gesellschaft sieht sich der Islam mit einer ständig wachsenden Zahl anderer Religionen und Weltanschauungen konfrontiert. Die Auseinandersetzung und Begegnung mit diesen lässt sich schwerlich mit dem Bewusstseinsstand des 7. Jahrhunderts bewältigen. Die Realität des 21. Jahrhunderts erfordert eine Weiterentwicklung traditioneller Denkweisen und Haltungen. Inmitten dieser Vielfalt von Bekenntnissen oder deren Ablehnung nehmen Muslime neben ihrer eigenen Wahrheit andere Wahrheiten zur Kenntnis und erweisen anderen Glaubensansprüchen oder Weltsichten Achtung und Respekt.
3. Die Trennung von Religion und Scharia: Dem unter muslimischen Theologen seit alters her geführten Streit darüber, ob Religion (Dīn) und Scharia zusammengehören, stellt ein Islam europäischer Prägung die Position gegenüber, wonach die Religion seit Bestehen der Menschheit unverändert geblieben ist, die gesellschaftliche Ordnung jedoch einer ständigen Veränderungsdynamik unterliegt. Ziel einer islamischen Gesellschaftsordnung ist Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Das macht die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft zur notwendigen und angemessenen Grundlage einer religiösen Praxis in Freiheit und Würde.

Die Befreiung der Frau

4. Die Gleichheit von Mann und Frau: Der Koran enthält klare und für damalige Verhältnisse revolutionäre Aussagen zur Position der Frau in der Gesellschaft, die der Würde und den Ansprüchen der Frau hohen Stellenwert einräumen. Ein Weiterdenken der Koranverse und der Aussagen des Propheten in eben diesem Sinne führte demnach geradezu zwangsläufig zu der Befreiung der Frau aus der Unterdrückung durch eine männerdominierte beziehungsweise -begründete Theologie.
5. Nicht der Akt des Betens steht im Vordergrund, sondern das, was daraus folgt: Leider haben die Muslime im Laufe ihrer Geschichte den Sinn des Gebets aus den Augen verloren, der sich nicht in dessen Formalismus erschöpft, sondern Nutzen stiftet. Damit verbindet sich der Aufruf an die Muslime, aus den gesellschaftlichen Nischen herauszutreten, um als Bereicherung der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Aus dieser Einstellung entstünde eine auch religiös begründete Loyalität gegenüber den demokratischen Werten.
6. Koran und Sunnah bedürfen stets einer spezifischen kontextuellen und historischen Verortung. So ließe sich auch der Missbrauch des Korans als Rechtfertigung von Gewalt oder für politische Zwecke verhindern. Denn Gräueltaten etwa werden verübt mit Berufung auf den Koran, jedoch ohne Berücksichtigung eben seiner historischen und kontextuellen Aspekte.

Den Koran richtig zu verstehen würde bedeuten, sich in seinem Geiste Fragen zuzuwenden, die aus der Gesellschaft entspringen und ihn in einer Art mit Leben zu erfüllen, die die Entfremdung von der Religion zu verhindern vermag. Religiöse Unmündigkeit ist dafür freilich eine schlechte Voraussetzung. Zu einer Quelle der Bereicherung wird die Lektüre des Korans erst durch das Zutun des Geistes.

Kein unerfüllbarer Traum

Einen auf diesen Grundlagen beruhenden Islam in Freiheit und unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Realitäten zu verwirklichen, mag kein leichtes Unterfangen sein, ist aber keineswegs ein unerfüllbarer Traum. Sich an seine Verwirklichung zu machen hieße, eine historische Chance zu ergreifen – nicht zuletzt mit Blick auf die islamischen Länder, wo es den Menschen vielfach an den wissenschaftlichen und persönlichen Freiheiten mangelt, um den Islam aus historischen und theologischen Zwängen zu befreien. Darin liegt die historische Aufgabe der in Europa lebenden Muslime.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Ednan Aslan
(* 1959 in Bayburt, Türkei) studierte ab 1980 Sozialpädagogik, Politikwissenschaften und Pädagogik in Esslingen, Tübingen, Stuttgart, Klagenfurt und Wien. Seit 2008 Universitätsprofessor für islamische Religionspädagogik am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Islam in Europa, Theorie der islamischen Erziehung. [ Jenis]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2015)

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