Europäisch, wo nötig, national, wo möglich

Die Europäische Union braucht konstruktive Reformen. London tritt für eine offene, wettbewerbsfähige und demokratisch verantwortliche EU ein, die im Interesse aller Mitgliedstaaten für Wachstum und Arbeitsplätze sorgt.

Antieuropäische Parteien haben in den vergangenen Jahren in ganz Europa enormen Zulauf erhalten, was sich in der Ergebnissen lokaler, nationaler und europäischer Wahlen zeigt. Darauf müssen wir reagieren, indem wir die EU demokratischer machen und ihr bessere Möglichkeiten geben, um für Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, wie das die Bürger von ihr erwarten.

Seit dem Beitritt Großbritanniens hat sich die EU bis zur Unkenntlichkeit verändert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die EU um 16 neue Mitglieder erweitert, der Euro wurde eingeführt, und EU-Vorschriften regeln inzwischen unsere Angelegenheiten in vielen Bereichen – von der Umwelt- bis hin zur Sozialpolitik.

Unbequeme Wahrheit

Zweifelsohne hat die EU-Mitgliedschaft Großbritannien in mancher Hinsicht eindeutige Vorteile gebracht. Aber in anderer Hinsicht hat sie zu einem Verlust von nationaler Souveränität und einer Zunahme der bürokratischen Belastung der Wirtschaft geführt, sodass unsere Mitgliedschaft inzwischen nur noch von einer hauchdünnen Mehrheit der britischen Bevölkerung gutgeheißen wird.

Die Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien und der ganzen EU wollen, dass sich die Union darauf konzentriert, Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen – aber auch darauf, die Unterschiede zwischen den 28 Mitgliedstaaten zu respektieren und daran zu arbeiten, dass die Union mehr demokratische Verantwortlichkeit aufweist. Um das sicherzustellen, wollen wir an Lösungen arbeiten, von denen alle profitieren, inner- und außerhalb der Eurozone.

Was also erwartet die britische Regierung von diesen Verhandlungen? Um das Vertrauen der britischen Bevölkerung in die EU zurückzugewinnen, müssen wir uns in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern auf ein Paket von Reformen einigen, das die EU fit macht für das 21. Jahrhundert – Reformen, die nicht nur Großbritannien, sondern allen 28 Mitgliedstaaten zugutekommen.

Erstens sehen wir uns, was Arbeitsplätze und Wachstum anbelangt, mit der unbequemen Wahrheit konfrontiert, dass das Wachstum der EU weit unter der Rate liegt, mit der die Arbeitslosigkeit auf ein akzeptables Niveau gesenkt werden könnte.

Wenn wir den europäischen Lebensstandard aufrechterhalten wollen, müssen wir unseren Unternehmen die Chance geben, international wettbewerbsfähiger zu werden, indem wir den Binnenmarkt besonders in den Bereichen Dienstleistungen, Digitalwirtschaft und Energie ausbauen. Wir müssen offen für den Welthandel sein und Abkommen mit den USA, Japan und anderen Industrieländern wie auch mit den wachstumsstarken Staaten Asiens und Südamerikas schließen. Und wir müssen ein Regelungsumfeld gestalten, das die Wirtschaft bei der Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen unterstützt, statt sie zu behindern.

Ein Zwei-Säulen-Europa

Zweitens wünschen wir uns Reformen, die es jenen Ländern, die das wollen, ermöglichen, die Integration voranzutreiben, und gleichzeitig die Interessen derer respektieren, die dies nicht wollen. Das gilt besonders für die Eurozone: Großbritannien will einer weiteren Integration nicht im Weg stehen – wir befürworten sie sogar –, aber wir brauchen die Garantie, dass die Interessen der Nicht-Euroländer geschützt werden.

Dieses Konzept eines Zwei-Säulen-Europas, bei dem das Verhältnis zwischen Euroländern und Nicht-Euroländern – innerhalb des Binnenmarkts und mit den gleichen Institutionen – klar definiert ist, haben wir auch schon in Form der Architektur des Schengen-Raums und der Bankenunion. Es ist vorteilhaft für alle. Es lässt eine weitere Integration der Eurozone zu und respektiert die Interessen der Mitgliedstaaten, die ihr nicht angehören. Und es trägt der Tatsache Rechnung, dass das Konzept eines immer engeren Zusammenschlusses manchen Mitgliedstaaten zusagt, aber nicht für alle Mitgliedstaaten als richtig erscheint.

Drittens meinen wir, dass die nationalen Parlamente ein größeres Mitspracherecht erhalten sollten. Dadurch würde nicht nur ein besserer Draht zwischen den Bürgern und den Beschlüssen der EU hergestellt, sondern auch das Subsidiaritätsprinzip – wonach Beschlüsse möglichst bürgernah gefasst werden müssen – konsequent umgesetzt. Zu oft ist die EU in Bereichen tätig geworden, in denen die Politik auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene gemacht werden könnte, ohne dass die Arbeitsweise des Binnenmarktes oder das effektive Funktionieren der EU davon beeinträchtigt würde.

Schutz gegen Sozialmissbrauch

Wir wollen die Rolle der nationalen Parlamente stärken, indem wir etwa für die Zukunft die Möglichkeit schaffen, dass einige sich zusammenschließen und gemeinsam Vorschriften blockieren können. Die EU muss die Ebenen des Regierens respektieren, die den Bürgern Europas am nächsten sind und die sie am besten zur Rechenschaft ziehen können. Wir stimmen der niederländischen Regierung zu: „Europäisch, wo nötig, national, wo möglich.“

Viertens akzeptieren wir, dass die Personenfreizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten der EU ist, diese Freiheit wollen wir mit unseren Verhandlungen auch nicht einschränken. Aber wir wollen das britische Sozialsystem gegen Missbrauch schützen und die Anreize verringern, die hoch qualifizierte Arbeitnehmer nach Großbritannien locken, um niedrig qualifizierte Jobs anzunehmen.

Dies untergräbt in den Herkunftsländern das Wirtschaftswachstum und in den Zielländern den Glauben an die Fairness der Freizügigkeit. Wir müssen auch die anderen Freiheiten weiterentwickeln – insbesondere den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, damit nicht nur die Personenfreizügigkeit ihren Beitrag zur Konvergenz der Lebensstandards in Europa leistet.

Austritt oder Verbleib?

Diese Reformen gehen wir konstruktiv und engagiert an. Wir wollen unseren Partnern zuhören und Reformen verabschieden, die allen Mitgliedstaaten helfen, im 21. Jahrhundert zu wachsen und zu gedeihen. Wir werden ein Reformpaket aushandeln und dann die britischen Bürger spätestens Ende 2017 in einem Referendum über Austritt oder Verbleib um ihre Meinung fragen.

Es steht viel auf dem Spiel: Großbritannien ist eine große und offene Volkswirtschaft mit einer langen Geschichte und einer wichtigen Rolle auf den Weltbühne, wodurch es einen enormen Beitrag zum Erfolg Europas leisten kann. Wenn wir die Probleme lösen, die die britische Bevölkerung so sehr beunruhigen, und im Referendum ein Ja-Votum bekommen, wäre die Frage unseres Platzes in Europa geklärt und Großbritannien könnte in Zukunft eine engagierte Rolle in einer EU spielen, die wettbewerbsfähiger, wohlhabender, offener und selbstbewusster sein wird. Das wäre ein Ergebnis, das wirklich im Interesse der Europäer auf beiden Seiten des Ärmelkanals sein würde.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Philip Hammond
(*1955 in Epping, Essex) studierte Philosophie, Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Oxford. Zunächst Manager in einem Pharmabetrieb, engagierte er sich seit 1979 politisch in der Konservativen Partei, seit 1997 ist er Mitglied des britischen Unterhauses. 2010 wurde er Verkehrsminister, ab 2011 Verteidigungsminister. Seit Juli 2014 ist er britischer Außenminister. [ Archiv ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2015)

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