Die Schallwellen des Eisenstädter Urknalls

Hans Niessl hat sich durch seinen Tabubruch zwar innerhalb des linksgrünen Milieus und dessen medialen Verkündern isoliert, nicht aber innerhalb der Bevölkerung insgesamt. Jetzt knirscht es im Gebälk. Gut so.

Der Damm ist gebrochen. Die künstliche Mauer um den rot-schwarzen Machterhalt hat dem Sturzbach des Wählerwillens nicht standgehalten. Die politische Landschaft sieht nach den Wahlen in der Steiermark und im Burgenland anders aus als zuvor. So weit, so manifest.

Während die Wogen nach dem vermeintlichen demokratischen Weltuntergang immer noch hoch gehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Diskussionskultur zu werfen und der Qualität der analytischen Überlegungen nachzuspüren. Die Nachschau führt im Zeitraffer zu recht merkwürdigen Eindrücken.

1. Phase (vor der Wahl): „Ja nicht mit den Freiheitlichen!“

2. Phase (nach Wahlschluss): jähes Entsetzen bei Rot, Schwarz, Grün, ORF und vielen Medien. Spontandiagnose einer sogenannten Expertenrunde „im Zentrum“: Schuld war das Asylproblem samt den provozierenden Zelten, vor allem aber die hetzerische Wahlwerbung der Blauen. Der (naive) Wähler ist darauf hineingefallen, hat die Zeichen der Zeit nicht begriffen.

Die unverstandenen Bürger

Die Wahlergebnisse waren im Übrigen Ausdruck einer allgemeinen Protestbereitschaft. Der Shitstorm werde wieder abklingen. Keine Rede noch von der tiefen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungsarbeit und einem ganzen Bündel von Problemen, bei denen sich die Bürger von der Politik unverstanden fühlen.

Nur in einigen Printmedien kommen auch andere Meinungen zu Wort: Christian Ortner stellt in der „Presse“ nüchtern fest: „SPÖ und ÖVP werden von immer mehr Wählern als eine Art Besatzungsmacht empfunden, die es ehebaldigst loszuwerden gilt“; Andreas Koller kommentiert in den „Salzburger Nachrichten“: „Die Politik hat einen Rechtsruck vollzogen, den die Wähler am vergangenen Sonntag gewünscht haben.“

3.Phase – Paukenschlag: Burgenlands Landeshauptmann schert, gedeckt durch eine Befragung der Parteimitglieder, aus der roten Phalanx aus und bewirkt zunächst lautes Gekreisch der Parteijugend. Tenor: „Hinaus mit Niessl!“ Ein kleines Häuflein von Teenagern schwenkt in der Löwelstraße Zettel mit FPÖ-feindlichen Parolen und verbalen Verdammunsgparolen gegen Hans Niessl. Für den ORF Grund genug, mit einem Kamerateam anzurücken und die lächerliche Szene als massiven Protest gegen die kommende rot-blaue Regierung im Burgenland zu dokumentieren.

Das rot-grüne Lager steht ansonst vor einem neuen Rätsel: „Wie konnte das nur geschehen?“ Die Antworten sind konfus. Josef Cap spricht von nicht beachteten Ängsten der Bürger und kritisiert vordergründige Diskussionen, der Politologe Anton Pelinka verblüfft mit der Aussage, man dürfe nicht die eigenen Wähler, sondern nur die Bevölkerung befragen und propagiert im Übrigen das Schweizer Regierungssystem (warum sich der linke Gelehrte gegen eine politische „customer satisfaction study“ als ein Instrument der innerparteilichen Demokratie stemmt, ist unerfindlich und wurde von Frau Thurnher nicht hinterfragt).

4.Phase: Niessl muss vor das Scherbengericht seiner Partei. Die Sitzung ist laut Rudolf Hundstorfer „alles andere als nicht kontroversiell verlaufen“. Die Ereignisse überschlagen sich. Im ORF beschreibt eine bisher kaum bekannte SPÖ-Politikerin minutenlang ihre Austrittsgründe aus der Partei und wettert mit rüden Worten gegen die FPÖ, die die Asylanten mit bösen Taferln empfange.

Bauch siegt über Kopf

5.Phase: Voves tritt in der Steiermark zurück und überlässt der ÖVP rührselig seinen Sessel. Nun beginnt die Sache auch zwischen SPÖ und ÖVP zu kochen: Wer hat wen ausgetrickst? Wer hat taktiert? Wer hatte zuvor mit der FPÖ geturtelt?

ORF-Mann Fritz Dittlbacher und „Profil“-Mann Herbert Lackner gefallen sich in der Rolle von Parteirednern und zweifeln an der Vertrauenswürdigkeit der Schwarzen; ÖVP-Mann Reinhold Lopatka spricht empört von Unterstellungen; Politologe Peter Filzmaier versucht inquisitorisch, den roten Verteidigungsminister Gerald Klug zur Abgrenzung von der FPÖ zu drängen; alle Medien spekulieren darüber, wie es mit Norbert Darabos weitergehen werde.

Der Generaleindruck: Emotionen dominieren den Verstand; Bauch siegt über Kopf; Politiker haben kein Sensorium für Strömungen und Entwicklungen; die journalistische Neugier entzündet sich vor allem an personellen Rochaden und möglichen Folgen für Werner Faymann, Michael Häupl und Josef Pühringer; Fragen des Machterhalts überlagern die sachpolitischen Aspekte der Umbrüche.

Nur recht ungern diskutiert wird über den Urknall für das jüngste Geschehen und seine Berechtigung – nämlich den Bruch des Ausgrenzungstabus der FPÖ und damit das Scheitern eines Dogmas, das schon lange nicht mehr die Wählermeinung widerspiegelt. Hinweggeschwiegen wird vor allem über Niessl selbst, der zweifellos aus einer festen Überzeugung heraus das tat, was er als Politiker für richtig hielt. Allein der Mut, sich für sein Tun einer innerparteilichen Ächtung und medialen Peitschenhieben auszusetzen, verdient Respekt. Wer Niessl diesen Respekt verweigert, verkennt die Isolationsängste, die auch in einer freien Gesellschaft vorhanden sind.

Die geheime Furcht vor dem sozialen Pranger zählt nun einmal zu den menschlichen Wesensmerkmalen. Sie wurde im Lauf der Jahrhunderte von vielen Denkern beschrieben und in der Neuzeit auch experimentell nachgewiesen.

John Locke sprach 1680 vom „law of opinion“, der Amerikaner Edward Ross formulierte rund 200 Jahre später: „Für die Masse der Menschen sind Lob und Tadel die Herrscher ihres Lebens“; Richard T. La Piere unterschied drei verschiedene Kategorien von Sanktionen, mit denen der Unangepasste rechnen müsse: körperliche, wirtschaftliche und psychologische.

Niessl scheut die Isolation nicht

Elisabeth Noelle hat letztendlich eine Vielzahl empirischer Nachweise zur Aussage verdichtet, dass Menschen, falls sie sich isoliert fühlen, selbst dann zum Schweigen tendieren, wenn sie von der Richtigkeit ihres Standpunktes überzeugt sein können. Ihre Schlussfolgerung für die Politik lautet: „Wer Meinungen verändern will, darf Isolation nicht scheuen.“

Hans Niessl ist dieser Forderung gerecht geworden. Er hat die Isolation nicht gescheut, als er sich vor dem Scherbengericht seiner Partei für sein Verhalten verantworten musste. Er hat, indem er die Furcht vor dem Pranger überwand, ein scheinbar fest eingemauertes System des reinen Machterhalts aus den Angeln gehoben. Hut ab davor.

Freilich ist bei alledem auch dies zu bedenken: Hans Niessl war zwar innerhalb des linksgrünen Milieus und dessen medialen Verkündern, nicht aber innerhalb der Bevölkerung insgesamt isoliert. Die Schallwellen des burgenländischen Urknalls bestätigen das. Sie durchdringen jetzt unüberhörbar die Bundespolitik. Es knirscht im Gebälk. Gut so.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Andreas

Kirschhofer-Bozenhardt war Journalist in Linz, ehe er 1964 in die empirische Sozialforschung wechselte. Er war Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach und zählte dort zum Führungskreis um Professor Elisabeth Noelle-Neumann. Ab 1972 Aufbau des Instituts für Markt- und Sozialanalysen (Imas) in Linz. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2015)

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