Raus aus der Verwahrung!

Kinderflüchtlingen steht in Österreich Schutz und Hilfe zu. Stattdessen werden sie in Massenquartiere gesteckt.

Iman ist 17 Jahre alt. Sie ist ohne Angehörige vor Terror und Bürgerkrieg aus Somalia geflohen und hat es bis nach Österreich geschafft. Iman ist ein sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Sie hat einige Wochen in Traiskirchen verbracht, seit einem halben Jahr lebt sie im Clearinghouse in Salzburg, einer Flüchtlingswohngemeinschaft von SOS-Kinderdorf. Nach und nach beginnt sie, Dinge zu entdecken, die ihr Spaß machen. Fahrradfahren zum Beispiel.

Niemand kann jungen Menschen wie Iman ihre verlorene Kindheit zurückgeben. Niemand kann wiedergutmachen, was ihnen in der Heimat und auf dem Weg nach Europa widerfahren ist. Doch jedes Kind hat in Österreich Anspruch auf Schutz und Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind. So steht es in der Verfassung.

Die Realität sieht anders aus. 1200 Mädchen und Burschen müssen derzeit in Traiskirchen ausharren, gemeinsam mit Erwachsenen in einem völlig überfüllten Erstaufnahmezentrum, ohne altersadäquate Betreuung, ohne ausreichende Schulbildung. Diese Kinder und Jugendlichen waren monatelang auf der Flucht. Sie kennen Missbrauch, Gewalt und Hunger. Jeder Tag in einem Massenquartier ist eine zusätzliche Belastung. Besonders für Mädchen wie Iman, die nicht gelernt haben, ihre Bedürfnisse zu formulieren. Sie haben in Traiskirchen oder Talham nichts verloren. Sie gehören sofort in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, in denen sie rund um die Uhr psychosozial betreut werden.

Überforderte Politiker

Seit Monaten beteuert die Innenministerin, dass ihr die Verbesserung der Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sehr am Herzen liege. Sie hätte längst faire Betreuungsbedingungen schaffen können. Derzeit gewährt die öffentliche Hand für minderjährige Flüchtlinge gerade einmal die Hälfte des Tagsatzes, der für österreichische Kinder üblich ist. Als brauchten diese nur halb so viel Aufmerksamkeit, nur halb so viel Bildung, nur halb so viel zu essen. Für jeden Platz, den SOS-Kinderdorf für einen jungen Flüchtling schafft, sind zusätzliche Spendengelder notwendig.

Genauso unverständlich ist das Agieren diverser Landespolitiker. Denn die Rechtslage ist klar: Laut Gesetz ist die Kinder- und Jugendhilfe für alle Minderjährigen in Österreich verantwortlich, egal wo sie geboren sind. Stattdessen schauen Länder und Gemeinden zu, wie Minderjährige in Bundesversorgungsstellen verwahrt werden.

Angeblich fürchten sie sich vor den Wählerinnen und Wählern. Das ist schon starker Tobak: Politiker, die sich überfordert fühlen, wenn sie Menschen erklären sollen, dass schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche jemanden brauchen, der sich um sie kümmert.

Auch das Argument, Bildungs- und Betreuungsangebote für junge Flüchtlinge seien Zeit- und Geldverschwendung, zieht nicht. Stimmt schon, einige müssen nach ihrer Volljährigkeit Österreich wieder verlassen. Doch die hier erworbenen Fähigkeiten nehmen sie mit.

Sehen wir dies doch einfach als kleinen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit. Apropos: Gerade wurden die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit wieder gekürzt. Österreich hilft also im In- und Ausland halbherzig. Das ist doppelt verantwortungslos.

Martina Stemmer (38) ist Mediensprecherin von SOS-Kinderdorf Österreich.
Davor arbeitete sie als Journalistin.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

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