Freies Denken: Die Rückkehr der „Nenninger“

Was wird aus der Presse, was aus der Öffentlichkeit? Die zwei unterschiedlichen Zukunftsbilder eines Medienprofessors.

Wissenschaft, so hat einmal ein weiser Mann gesagt, arbeitet mit dem Rücken zur Zukunft. Sie sortiert das Vergangene, ordnet das Gewesene, kategorisiert und spießt Schmetterlinge auf, die schon nicht mehr leben. Prognosen, gar Prophezeiungen sind Wissenschaftlern eigentlich fremd. Umso schöner, dass „Die Presse“ hier zur Ausnahme von der Regel animiert und wissen will, wie genau die Medienöffentlichkeit im Jahre 2048 aussehen wird. Und ich muss gleich sagen: Ich weiß die Antwort! Allerdings will ich trotzdem zunächst zwei gegensätzliche Zukunftsbilder anbieten.

Zuerst den Albtraum, die Dystopie: 2048 muss man auch den insgesamt 17 verbliebenen Publizistikstudierenden der Universität Wien erklären, was das einmal war, eine Zeitung. Dieses komische, leicht riechende Bündel aus viel zu engzeilig bedrucktem Papier, das am Morgen, bevor der Tag kam, über den Frühstückstischen der Republik abgeworfen wurde.

Und man muss ihnen sagen, wie man gearbeitet hat, in dieser anderen Zeit, als es noch Journalismus gab und echte, durchschlagende Enthüllungen. Denn längst ist das, was man einmal die Öffentlichkeit nannte, eine stetig pulsierende Sphäre aus Katzenvideos, Blut- und Enthauptungsbildern und Hitlisten von den hässlichsten Hunden der Welt und natürlich der allabendlichen Wrestlingshow, die landesweit die ORF-Abendnachrichten ersetzt hat.

Hier kämpfen zwischen 18 und 23 Uhr alternde Models in knappen Höschen und mit furchtbar aufgespritzten Lippen um eine Scheibe Brot; als Hauptpreis winkt die Rundumerneuerung durch einen Schönheitschirurgen aus Graz, der den gesamten Sender aufgekauft hat und dessen Mitarbeiter gerade ein riesiges Porträtfoto eines gewissen Armin Wolf im ehemaligen ORF-Haupthaus entsorgt haben, weil niemand den furchtbar ernst dreinblickenden Mann irgendwie einordnen konnte.

Im Übrigen ist „Die Presse“ schon 2028 für eine symbolische Summe an Facebook verkauft worden – eine soziale Plattform, wie man damals sagte, die es aber nun auch nicht mehr gibt. Denn inzwischen existiert ein einziges, riesiges, weltumspannendes Netzwerk mit dem Namen GFA, ein Weltmonopol aus den einstigen Digital-Giganten Google, Facebook, Amazon.

Jeder, der von irgendetwas leben will, muss mithilfe dieses Netzwerks kommunizieren, Arzttermine machen, einkaufen und seine Wählerstimme abgeben. Was aber vergleichsweise leichtfällt, denn es gibt 2048 nur noch die FTPÖ, die Freiheitliche Teaparty Österreichs, die aufgrund ihres sensationell knappen Parteiprogramms („Mehr Daham!“) in der Lage war, einen viralen Megahit zu landen und damit praktisch alle politischen Mitbewerber dauerhaft aus dem Feld zu schlagen.

Allerdings kursieren Gerüchte, dass der inzwischen 26-Jährige GFA-Chef Mark Zuckerberg (ja, ein Klon!) sein Geld nicht nur durch Konsumentendaten, sondern auch durch die Ausspähung der Bürger verdient. Aber man weiß nichts Genaues, weil die Journalisten, die dies recherchieren könnten, alle tot sind und ohnehin niemand wüsste, wer sie für ihre Arbeit bezahlen sollte.

Nur die Gruppe der sogenannten „Nenninger“ (eine Minisekte, die den einstigen österreichischen Publizisten Günther Nenning zum Heiligen verklärt und lächerliche Dogmen wie die Freiheit der Presse und des Denkens zu ihren Glaubensartikeln zählt) versucht hier noch gegenzuhalten. Aber das sind Nostalgiker, die man nicht ernst nehmen muss, kümmerliche Fortschrittsfeinde, Idioten.

Nur eine andere Plattform

Nun aber die zweite Prophezeiung. 2048 erscheinen Zeitungen nicht mehr auf Papier, aber das Prinzip von Print – die unvermeidlich langsam klärende, faktenorientierte Informationsaufbereitung, die Suche nach dem zweiten Gedanken – hat nur die Plattform gewechselt. Ja, wir lesen nun alle auf dem iLife, einem internetfähigen, den linken Unterarm umhüllenden Pulloverzusatz in Gestalt eines wunderbar anschmiegsamen Bildschirms.

Die verschiedenen Medien haben nach einer Phase der Aufgeregtheiten und der ungesunden, durchaus gefährlichen Polarisierung und Fragmentierung von Öffentlichkeit nun ihren Daseins- und Lebenszweck gefunden, wie dies in Bertolt Brechts Medientheorie schon prognostiziert worden war. Soziale Netzwerke, Blogs und Foren dienen der Debatte reifer Bürger, Digitalzeitungen und -magazine liefern Hintergrund und Orientierung, verdienen ihr Geld vor allem mit hohen Abo-Preisen, weil alle begriffen haben, dass es ohne guten Journalismus und einen Diskursfokus nicht geht.

Das Märchen von den Trollen

Und natürlich sendet der ORF weiter Nachrichten, finanziert aus einer sogenannten Qualitätsabgabe von Google, Facebook und Amazon, die die EU ganz schnörkellos durchgesetzt hat. Und die „Nenninger“ gelten nicht länger als obskure Sekte, sondern ihre führenden Köpfe haben bis weit in die SPÖ, die ÖVP und die Grünen hinein Einfluss (die FPÖ kommt 2044 nach einer Serie dramatischer Enthüllungen ihrem totalen Bedeutungsverlust durch Selbstauflösung zuvor).

Aber wie dem auch sei – der Stand der Medienevolution des Jahres 2048 lässt sich an einem einzigen, kuriosen Detail zeigen: Beim Sommerabschlussfest der Freien Waldorfschule Innsbruck am 7. Juli 2048 liest eine junge Mutter ein Märchen vor, das den zunächst rätselhaft-unverständlichen Titel trägt: „Der Troll.“

„Was sind überhaupt Trolle?“, ruft ein kleiner Junge gleich zu Beginn in die Runde. Die Mutter schaut kurz auf und antwortet: „Trolle, das waren einmal bösartige, kaputte Typen mit gelb leuchtenden Augen, die im Netz Hass und Spott verbreitet haben. Die das zerstören wollten, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält: menschliche Kommunikation, Wertschätzung, Liebe ... Aber das ist lang her.“ Dann liest sie weiter, erzählt von bösen Fabelwesen, die längst Geschichte sind.

Wir entscheiden, was wird

Damit bin ich wieder am Anfang – und bei der Frage: Was wird von all dem Wirklichkeit? Ich habe behauptet, dass ich das weiß. Das stimmt nicht ganz. Aber ich weiß definitiv, worauf es ankommt: auf den Einzelnen, auf jeden, der diese Zeilen liest, auf jeden, der postet, eine Zeitung kauft und sich mit guten oder schlechten Absichten in den Strom des öffentlichen Meinens und Redens hineinbegibt.

Wir sind es, die darüber entscheiden, was wirklich wird – ob sich die Öffentlichkeit in eine Sphäre des Spektakels verwandelt oder in eine Welt der wechselseitigen Ermutigung und des Arguments, der nützlichen Enthüllung und der klärenden Debatte. Das sind der Schrecken und die Schönheit der Gegenwart, unserer digitalen Zeit. Sie verlangt uns ab, dass wir die Welt des Jahres 2048 gemeinsam erfinden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Bernhard Pörksen,
(* 1969 in Freiburg im Breisgau), studierte Germanistik, Journalistik und Biologie. Er ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlicht er sein gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun verfasstes Buch „Kommunikation als Lebenskunst“ im Carl-Auer-Verlag, Heidelberg. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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