Tragisches Versagen der EU in Mazedonien

Seit Jahren nimmt die EU nicht zur Kenntnis, dass sich die mazedonische Innenpolitik in eine negative Richtung entwickelt. Durch die Obstruktion Griechenlands trug sie sogar zur Verschlechterung des politischen Klimas bei.

Vor einem Jahrzehnt war Mazedonien der Musterschüler auf dem Westbalkan. Das Land bekam 2005 den EU-Kandidatenstatus, wenige Monate nach dem nunmehrigen EU-Mitglied Kroatien. Eine glänzende Zukunft schien bevorzustehen. Zehn Jahren später ist diese Zukunft in weite Ferne gerückt.

Der Anfang des Jahres enthüllte Abhörskandal, in den die führenden Persönlichkeiten des mazedonischen Staats involviert sind, ist ein Sinnbild für den Rückschritt der demokratischen Entwicklung in Mazedonien. Die Ausschreitungen, die vor Kurzem in Kumanovo, der zweitgrößten Stadt Mazedoniens, stattgefunden haben, deuten auf das Gewaltpotenzial latenter Frustrationen hin.

Die Schuld für die prekäre Lage liegt nicht nur bei der mazedonischen Regierung. Vielmehr wird hier auch ein schweres Versagen der EU in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft augenscheinlich.

20.000 Bürger abgehört

Der Abhörskandal, der zu massiven Demonstrationen geführt hat, stellt direkt den Premierminister, Nikola Gruevski, infrage. Der Vorwurf lautet, dass die mazedonischen Geheimdienste in den letzten Jahren rund 20.000 Bürger – ein Prozent der gesamten Bevölkerung– abgehört haben, darunter politisch Verantwortliche, Journalisten, Diplomaten und Vertreter der Zivilgesellschaft. Das ganze Abhörprogramm war natürlich gesetzeswidrig.

Viel empörender als der Rechtsbruch ist aber der Inhalt der mutmaßlichen Abhörungen. Der regierenden Partei und deren Premierminister, Nikola Gruevski, wird vorgeworfen, die unterschiedlichsten Missetaten begangen zu haben. Unter anderem Bestechung, Amtsmissbrauch, Einschüchterung, rechtswidriger Druck vor Gericht und politisch motivierte Verhaftungen.

Trotz der Schwere der Vorwürfe wird der Fall nicht in einer rechtsstaatlichen Weise behandelt. Regierungschef Gruevski blieb bisher unbehelligt. Stattdessen wurde der Chef der Oppositionspartei SDSM, Zoran Zaev, der den Skandal an die Öffentlichkeit gebracht hat, von Gruevski als Spion und Putschist bezeichnet und vor Gericht gebracht.

Dieses Vorgehen hat in Mazedonien mittlerweile Tradition. In den letzten Jahren wurden zunehmend Oppositionsmitglieder verklagt, weil sie durch ihre Kritik dem Regierungschef angeblich einen „persönlichen und moralischen Schaden“ zugefügt hätten.

Dass die regierende Partei die parlamentarische Demokratie in Mazedonien mit Verachtung straft, ist längst bekannt. Im Dezember 2012 wurden die Abgeordneten der Opposition und die anwesenden Medien während der Debatten im Vorfeld einer Abstimmung mit polizeilicher Gewalt aus dem Nationalparlament Mazedoniens vertrieben.

Die autoritären Tendenzen, die die Gruevski-Regierung seit 2006 auszeichnen, betreffen nicht nur das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. Sie haben zur Nekrose der staatsrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen in Mazedonien geführt. Große Sorge muss insbesondere die zweckmäßige Auflösung einer bunten Medienlandschaft bereiten. Die verbliebenen Medien werden großteils von der Regierung finanziert oder kontrolliert. Zwei Fernsehkanäle und drei Zeitungen, die sich der Regierung gegenüber kritisch äußerten, mussten hingegen bereits in den letzten Jahren ihren Betrieb einstellen.

Autoritäre Entgleisungen

Reporter ohne Grenzen stufte Mazedonien 2007 auf den 36. Platz der Medienfreiheit weltweit ein. Nun befindet sich das Land an der 117.Stelle, zwischen Katar und Afghanistan. Diese autoritären Entgleisungen sind kein neues Phänomen. Die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, Dunja Mijatović, äußert sich seit Längerem sehr kritisch zur Entwicklung des Landes. Nicht zuletzt prangerte sie öffentlich die „inakzeptablen“ Inhaftierungen von Journalisten an.

Der leidige Namensstreit

Die EU hingegen schaut seit Jahren weg. Die Stabilität des multiethnischen Landes zu bewahren ist ihre oberste Priorität. Zu groß ist die Angst vor einer Wiederholung des bewaffneten Konflikts, der das Land 2001 zerrissen hat. Die Beteiligung von albanischen Parteien an der Regierungskoalition erlaubte die bequeme Illusion, dass sich Mazedonien für den Weg des Fortschritts entschlossen hätte.

Damit war die EU zufrieden. Sie übersah dabei, dass die regierenden Parteien nicht nach Gemeinwohl streben, sondern skrupellos ihr parteiliches und machtbezogenes Interesse verfolgen.

Allerdings hat die EU nicht nur weggeschaut. Sie hat darüber hinaus zur Verschlechterung des politischen Klimas in Mazedonien beigetragen. Seit 2008 versperrt Griechenland im Rat der EU Mazedonien den Weg zum EU-Beitritt aufgrund eines Streits um den Namen des Landes. Obwohl der Internationale Gerichtshof 2008 das Veto Griechenlands als gesetzeswidrig befunden hat, gilt in der EU das Solidaritätsprinzip mit Griechenland weiterhin als vorrangig.

Das praktische Ergebnis ist die Aussichtslosigkeit Mazedoniens auf einen EU-Beitritt. Der demokratische Rückschritt und der zunehmende Nationalismus in Mazedonien stehen eindeutig mit dem Stillstand in den europäischen Integrationsbestrebungen Mazedoniens in Zusammenhang.

Die EU hat sich bisher nur widerstrebend mit dem Thema befasst. Ihre Fortschrittsberichte spielen seit Jahren den demokratischen Rückschritt von Mazedonien herunter. Ihre Vertreter legitimieren durch die fehlende Kritik weiterhin die korrupten und autoritären Eliten des Landes.

EU-Mediation löst Krise nicht

Die Zivilgesellschaft wird kaum angesprochen (geschweige denn in EU-Prozesse involviert), und eine Diskussion der EU-Position im Namensstreit steht nicht auf der Agenda. Im Europäischen Parlament bremst überdies die Europäische Volkspartei die Kritik gegen die Gruevski-Regierung.

Die Mediation, die EU-Kommissar Hahn derzeit in Brüssel betreibt, wird die Krise nicht beenden: weil sie die Tiefe und das Ausmaß des demokratischen Rückschritts des Landes verkennt; weil der Wiederaufbau der zwischenparteilichen Kommunikation, auf die die Mediation abzielt, nicht ausreichen wird, um die strukturelle Erosion der Demokratie in Mazedonien zu kompensieren; weil die Organisation von vorgezogenen Wahlen ohne unabhängige Medien nur ein prozeduraler, belangloser Fortschritt sein wird; weil ein ständiges, viel intensiveres Engagement der EU in Mazedonien notwendig ist, um den Rechtsstaat wiederherzustellen, die Administration zu entpolitisieren und die Vereinnahmung des Staats durch private und parteiliche Interessen der führenden Elite zu beenden.

In Zeiten akuter Konflikte an ihren Grenzen kann sich die EU ein Versagen in Mazedonien nicht leisten. Denn das würde auf das Verpuffen ihrer transformativen Kraft in der Region und darüber hinaus hinweisen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



MMag. Dr. Florent Marciacq
ist Politikwissenschaftler, Chargé de Mission am österreichisch-französischen Zentrum für Annäherung in Europa in Wien,
Gastforscher an der österreichischen Landesverteidigungsakademie und dem OSZE-Sekretariat in Prag und Experte am Forschungslehrstuhl des Parlaments in Luxemburg. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.