Ägypten: Noch ein Pulverfass vor Europas Haustür

Vor zwei Jahren verjagte das Militär die Muslimbruderschaft von der Macht.

Heute jährt sich zum zweiten Mal der Sturz von Mohammed Mursi, dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens. Im Sommer 2013 verjagte ihn das Militär und übernahm selbst die Macht. Abdel Fattah al-Sisi, ehemaliger Armeechef und Verteidigungsminister, wurde am 8. Juni 2014 als neues Staatsoberhaupt angelobt. Mit der führenden Rolle des Militärs wurde jene Ordnung wiederhergestellt, die in den vergangenen Jahrhunderten oft der Normalzustand in Ägypten gewesen war.

Die Muslimbruderschaft wurde neuerlich verboten, zahlreiche führende Mitglieder wurden verhaftet, sind ins Ausland geflohen oder untergetaucht. Durch die Repressionswelle erlitt die Organisation nicht nur einen massiven personellen Aderlass, sondern erlebte auch einen Generationswechsel: Die neuen Anführer sind jünger, risikofreudiger und radikaler.

Darüber hinaus hat sich die Anhängerschaft der Muslimbrüder zersplittert, was zur Entstehung zahlreicher kleiner, voneinander unabhängiger Terrorzellen geführt hat. Auf der Halbinsel Sinai führen Jihadisten einen regelrechten Krieg gegen die Armee, was diese Woche wieder gezeigt hat. In den großen Städten sind kleinere Anschläge auf die Sicherheitskräfte und die kritische Infrastruktur die Regel.

Mittelstand unter Druck

Die Stimmung innerhalb der Bevölkerung ist ambivalent: Einerseits sorgen die Regierung und die Sicherheitskräfte wieder für jene Stabilität, die die Muslimbruderschaft auch aufgrund des eigenen politischen Versagens nicht sicherstellen konnte. Andererseits müssen Präsident al-Sisi und seine Anhänger zeigen, dass sie auch die unmittelbaren Lebensumstände der Menschen verbessern können: Ein Viertel der Bevölkerung lebt unter der offiziellen Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei 13 Prozent, der Mittelstand steht unter immer stärkerem Druck.

Auch die Muslimbruderschaft konnte in ihrer kurzen Regierungszeit keine Trendwende herbeiführen. Ihr politischer Handlungsspielraum war zum Zeitpunkt des Sturzes von Mohammed Mursi bereits aufgebraucht: Das Militär hatte die Islamisten zunächst abwartend beobachtet, nach deren erwiesener Unfähigkeit aber die Reißleine gezogen. Der Sicherheitsapparat und die staatstragende Nationaldemokratische Partei hatten die Muslimbrüder hingegen von Anfang an in allen Bereichen behindert und blockiert.

Nur oberflächlich stabil

Auch der neuen Regierung ist klar, dass sie wirtschaftliche Erfolge vorweisen muss, um eine Neuauflage des Arabischen Frühlings zu verhindern. Das Volk hat sich 2011 von der alten Elite emanzipiert, diese Entwicklung wird sich nicht mehr umkehren lassen. Dafür wird Präsident al-Sisi nicht nur seine guten Beziehungen zu Saudiarabien weiter pflegen müssen, auch Europa wird ein wichtiger Ansprechpartner bleiben.

Ein Grund dafür sind auch die Muslimbrüder: Viele von ihnen sind 2013 nach Europa geflohen und versuchen hier, durch Lobbyarbeit den Druck der Staatengemeinschaft auf die ägyptische Regierung zu erhöhen. Darüber hinaus dürften sich zahlreiche Islamisten auch auf langfristige Aktivitäten in Europa fokussieren, um ihre antidemokratische Agenda hierzulande zu verfolgen.

Obwohl Ägypten derzeit oberflächlich stabil erscheint, stehen die großen Herausforderungen erst an. Die etablierten Machtzentren stehen nun vor der kaum zu bewältigenden Aufgabe, strukturelle Reformen zulasten ihrer eigenen Partikularinteressen durchzuführen: ein Problem, das auch in Europa nur zu bekannt ist.

Helmut Pisecky war Sicherheitsexperte im Verteidigungsministeriums. Seit 2010 Geschäftsführers des Informationsdienstleisters Mar Adentro.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2015)

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