Abseits vom Stammtisch: „Die Presse“ gibt Alarm

Mega-Ereignisse. Was Zeitungen für hochinteressante Zeiten halten, muss für die Zeitgenossen nicht immer angenehm zu lesen sein.

Aus dieser Zeitung fließt seit vier Wochen eine Kaskade besorgniserregender Aufmacher: „Europa und die vollen Boote“ (20.6.), Blutiger Terror in Tunesien, Lyon und Kuwait (27.6.), „Grexit“ vom 16.6 bis vorläufig 30.6. in allen Ausdrucksformen, aber immer schlimmer.

Die „Presse am Sonntag“ stößt am Tag nach der Amokfahrt in Graz ihr Programm um, wie ihr gedrucktes Logbuch verrät: „Eigentlich sollte hier etwas über den längsten Tag des Jahres und die Leichtigkeit des Sommers stehen. Doch dann erreichte uns die Nachricht von der Tragödie aus Graz – und jedes Wort über den Sommer ist fehl am Platz“ (21.6.).

Leser und Leserinnen können nebenbei prüfen, ob ihr Leibblatt mit extremen Situationen fertigwird, ohne die Urteilsfähigkeit zu verlieren. Die Antwort lautet: „Die Presse“ schafft es. Bei allen vier genannten Themen gleitet sie nicht auf Stammtische ab. Die Zeitung ringt sich angesichts beängstigender Entwicklungen auch Thesen ab, die vielleicht schon früher einer sachlichen Diskussion wert gewesen wären, etwa: Parallel zur Asylgewährung für die von der Terrorbewegung Islamischer Staat Verfolgten habe man „zugleich dafür zu sorgen, dass abgelehnte Bewerber und Wirtschaftsflüchtlinge dorthin zurückgeschickt werden, wo sie die Flucht begonnen haben“.

Zwischen den vier aufgezählten Spitzenthemen der Saison meldet sich auch die Innenpolitik mit umwerfenden Neuigkeiten zu Wort. Doch fallen diese in ihrer Bedeutung im Vergleich mit den anderen oft globalen Katastrophen ab. Sie liefern je nach individuellem Standpunkt des Beobachters bunte Bewertungsmöglichkeiten, ja sogar Material zum Gustieren: „Rot-blauer Deal spaltet die SPÖ“ (5.6.), „SPÖ versinkt im rot-blauen Strudel (6.6.), „Voves weg“ (11.6.) und „Abendröte“ (13.6.). Aufregend sind die Nachrichten und anzunehmenden Folgen allemal.

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Von der Parteipolitik führt ein gerader Weg zum Grammatikfehler. „Faymann solle sich so rasch als möglich auf europäischer Ebene um eine Problemlösung bemühen“ (20.6.). So rasch wie möglich, sonst einverstanden. Oder sie führt zu sinnstörenden Verschreibern: „Wie ,Die Presse‘ exklusiv berichtete, hat Karl Wurm in Wien fünf Wohnungen in Häusern gebaut“ (23.6.). Ganz exklusiv: Er hat sie gekauft.

Oder mit einem Fallfehler im ersten Absatz zur Alten Donau: „So viele Bäder auf einen Fleck gibt es sonst nirgendwo in Wien“ (6.6.). Dazu ein entbehrliches ß im Stress nach der Grazer Amokfahrt: „Auch die zurückgelegte Strecke in der Fußgängerzone weißt laut dem Experten auf ,knallhartes Kalkül mit viel Planung‘ hin“ (22.6.).

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Die „Presse am Sonntag“ bietet für manche Redakteure einen willkommenen Auslauf. Das lässt sich an zahlreichen Beiträgen nachweisen, für die im Hauptblatt an normalen Wochentagen nie so viel Platz zur Verfügung stünde. „Heute Fußballer, morgen arbeitslos“ ist ein Beispiel dafür (28.6.): „Der Tag X kommt für 95 Prozent der Spieler schon, bevor die Karriere begonnen hat. Es kommen immer mehr, die dann schnell wieder weg sind.“

Ähnliche Diagnosen könnte man von der Arbeitslosigkeit auf Gelenkstörungen ab dem Vierziger und vom Fußball auf fast alle Leistungssportdisziplinen ausdehnen, in denen nur ein winziger Prozentsatz das Traumziel erreicht, Leistungsstar zu sein. Ich erwähne das, weil mich der Bildtext zu einem Foto der russischen Gymnastikweltmeisterin Margarita Mamun mehr erschüttert als begeistert hat:

„Anspruchsvoll, ästhetisch, elegant“ verspricht der Text (20.6.). Das dazugehörige Foto zeigt jedoch außer einem Arm mit verrenkter Hand noch zwei weitere Gliedmaßen und dazwischen ein kopfloses, fliegendes Fleischbündel, ähnlich einer chinesischen Verrenkungskünstlerin. Über Geschmack soll man nicht streiten, aber was an dem Foto „ästhetisch, elegant“ sein soll, bleibt ein Rätsel. Ohne Zweifel kann die Athletin aber in natura eine elegante und ästhetische Erscheinung sein.

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Österreich ist schön und „Tirol ein starkes Land“, verkündet eine Sonderbeilage (19.6.) Tirol habe „Proaktive Visionen für den Klimawandel“ lautet der große Titel. Was bedeutet das Kunstwort „proaktiv“? Und darüber hinaus gibt's nur Visionen?

So leicht geraten Journalisten auf Reiseseiten und anderswo ins Fachkauderwelsch: „Die Sachsen angeln im österreichischen Quellmarkt mit kulturellen Highlights nach Touristen.“ (6.6.). Der österreichische „Quellmarkt“ besteht aus Menschen, also hätte man auch schreiben können: Sachsen wirbt mit Kulturangeboten um Besucher aus Österreich.

„Haas-Haus höher als der Stephansdom?“, überschreibt „Die Presse“ einen Bericht über eine Diskussion unter Architekten (20.6.). „Hochhäuser sind unbedingt notwendig“, liest man. „Innsbruck ist fast mit Manhattan zu vergleichen“, also müsse die Stadt am Inn „in die Höhe gehen“. Man brauche nicht einzelne Hochhäuser, sondern solche „in Rudeln“. Also bitte: Behaupten und berichten darf man alles, aber wenn zu dick, gar zu hoch aufgetragen wird, hätte man gern gewusst, was „Die Presse“ außer einem Fragezeichen zum Höhenkoller einer Branche zu sagen hat. Die Zeitung setzte sich bisher immer für die Rettung dessen ein, was einer menschlichen Kulturlandschaft den unverwechselbaren Wert verleiht.

Dankenswerterweise erklärt die Redaktion ein paar geheimnisvolle Abkürzungen aus der EU-Finanzwelt, also OMT, LTRO, QE, ELA, SMP (23.6.). Ein paar Absätze weiter ist es schon aus, die Abkürzung ESM bleibt isoliert übrig. Sie steht für Europäischer Stabilitätsmechanismus. Der hat sich möglicherweise in den Budget- und Eurokrisen so abgenützt, dass sich kaum jemand erinnert, was die Buchstaben bedeutet haben.

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Wieder einmal glaubte ich, ein Journalist habe ein Wort aus einer Fremdsprache für den eigenen Zweck zurechtgebogen. In einem Bericht zur Flüchtlingssituation in Bulgarien heißt es: „Das Hauptziel des technischen Obstakels sei es, Schlepper zu stoppen“ (20.6.). Große Überraschung, das lateinische „obstaculum“ bzw. das englische „obstacle“ für „Hindernis“ gibt es in Form eines von der „Presse“ gebrauchten Lehnwortes „Obstakel“ offenbar schon länger, als mein Gedächtnis reicht. Es ist laut Fremdwörter-„Duden“ bloß veraltet.

Kein Fluchtweg führt aus einer unter Bilanzfälschern entstehenden Wirrnis: „Selbstverständlich will der Gesetzgeber jeden an die Cantare nehmen, der Bilanzen mit Vorsatz fälscht.“ (18.6.) Das Wort „cantare“ erklingt oft genug und in unterschiedlichen Stimmlagen im Radio, es bedeutete schon den alten und heutigen neuen Römern „singen“ oder „heulen“. Im gegenständlichen Fall ist aber gewiss nicht „cantare“, sondern die „Kandare“ gemeint. Das ist eine Gebissstange im Maul des Pferdes, die sich vielleicht auch als Applikation an der unteren Gesichtshälfte von Bilanzfälschern eignen könnte.

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)

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