Wie viel wissen Journalisten? Nachrichten mit Mehrwert

Zu berichten, was alle schon gehört haben, ist zu wenig. Versierte Medien teilen den Lesern mit, was sie außerdem wissen müssten.

Es wäre vermessen zu behaupten, dass Redakteure nicht auch mit den Mühen der Ebene kämpfen und dabei in den täglichen Trott geraten. Nehmen wir nur die Griechenland-Krise: Wochenlang die jeweils neueste „allerletzte Chance zur Einigung“ zu verkünden ist weder für die Berichterstatter noch für deren Publikum ein Vergnügen. In solchen Fällen sind die Redakteure fremdbestimmt. Sie reagieren auf politische Ultimaten, die einer Ziehharmonika gleichen, können aber doch dank ihres Korrespondentennetzes erläutern, erklären und kommentieren, warum alles schon wieder so schwierig ist.
Abseits von Halden des politischen Mülls gibt es aber genug kreativen Freiraum. Da schafft es „Die Presse“ beispielsweise, auf der Titelseite und weiteren zwei Seiten einige Geheimnisse zu lüften, die sich hinter den Urlaubsentscheidungen der Menschen verbergen (25. 7.) „Kaum ein Kunde, der über Checkfelix einen Flug oder über Trivago ein Hotel sucht, ist sich dessen bewusst, dass er eine Metasuchmaschine verwendet.“ Und auch nicht, dass dadurch die klassischen Reisebüros massiv unter Druck geraten. Richtig spannend wird es, wenn hinter den Kulissen abgerechnet wird oder Einflusssphären abgesteckt, ja sogar Sitzplätze in Linienflugzeugen im Tauschhandel zu Charterplätzen werden. Die Touristen glauben zwar, das gehe sie weiter nichts an, in Wahrheit ist es aber ihr Geld, das auf lautlosen Schienen des Internets schon verteilt wird, ehe sie es ausgegeben haben. Das zu erfahren ist der Mehrwert, den eine Zeitung bietet, wenn sie über Redakteure verfügt, die die Hintergründe kennen. Ein herausfordernder Beruf.

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Die Reisebeilage, die es in der Zeitung regelmäßig gibt, ist mehr fürs Herz denn für die harten wirtschaftlichen Zusammenhänge. Die „hellen Nächte im Haus am See“ locken, Vulkane nehmen geradezu menschliche Eigenschaften an: Der aktive Vulkan Sakurajima auf der japanischen Insel Kyushu sei „nervig“ und ein „Kotzbrocken“. Den indonesischen Vulkan Raung nennen die redaktionellen Vulkanbeobachter „wütend“ (11. 7.), wenn er den Flugverkehr lahmlegt. Das ist journalistische Software, sie gehört schon immer zum Zeitungsservice.
Apropos Service: Warum soll man sprachliche Unterscheidungen abschleifen und unterschiedliche Wortbedeutungen verwischen? Die Stadt Wien wolle „ein eigenes Service“ gegen den Leerstand von Wohnungen anbieten (18. 7.) Service als Dienstleistung wird aber hauptsächlich männlich gebraucht, Wien müsste also den Service anbieten. Das sächlich gebrauchte Service steht für Tafelgeschirr und bessere Kaffeehäferln bereit. Der Duden erlaubt zwar auch „das Service“, wenn es um Dienste geht. Aber wie gesagt – schade um die Unterscheidungsmöglichkeit.

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Gute Pfadfinder begehen täglich eine gute Tat, gute Journalisten vermeiden pro Tag mindestens eine abgedroschene Phrase. Leerformeln gehen den Lesern nämlich eher auf die Nerven als ihren Anwendern, denn diese merken gar nicht, dass auch ihre Kollegen gleichzeitig mit solchem sprachlichen Kleingeld klimpern. Hier einige Beispiele unter vielen: Auf Augenhöhe verhandeln. Auf ein Ergebnis am Ende des Tages hoffen. Das Problem auf den Punkt bringen. Die Hausaufgaben machen. Die Nerven liegen blank. Die Gesprächspartner tauschen sich aus. Es ist das Größte (Teuerste, Schönste, Schnellste) aller Zeiten. Rechtzeitig vor Ort sein.

Modebewussten Anhängern der Fendi-Kultur wird das Interview mit dem Fendi-Boss, Petro Beccari, viel geben (5. 7.). Die Druckseite ist aber zugleich vollgepackt mit Insider-Wissen und Begriffen aus dem Haute-Couture-Paradies. Wenn so viel Platz zur Verfügung steht, hätte der Geschichte ein größerer Kasten mit Überblick über den Konzern gutgetan, der mit den nicht erklärten Buchstaben LVMH abgetan wird. Man soll ja auch das Segment der Einsteiger im Leserpublikum befriedigen.

Historische Fotos sind gewiss reizvoll. Auf einer 1938 entstandenen Aufnahme des Hospitals der indischen Stadt Bikaner sind schätzungsweise 80 Personen abgebildet (4. 7. Wissen). Dort mit dem Verweis „Mitte“ auf die zwei Österreicher Josef Tauber und Richard Weingartner zu zeigen ist freilich eine Entsendung in den Irrgarten.

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Wo bleibt das Dativ-n? „Trotz Proteste der UNO hat Thailand muslimische Uiguren nach China deportiert“ (10. 7.). Srebrenica „bleibt trotz Hilfsgelder eine entvölkerte Schattenstadt“ (9. 7.).

Ein Genderproblem schiebt sich in die Grammatik. „Spitzenbeamte der UNO tritt zurück“ (24.7.). Gemeint ist eine Beamtin. Der Beamte ist der männliche Singular.
Die Frage nach dem Täter ist manchmal auch die eines Relativpronomens, dem der Bezugspunkt verloren gegangen ist. „Krugman ist nicht der einzige US-Nobelpreisträger, der die tsipro-varoufakische Regierungsmannschaft unterstützt, der dazu geführt hat, dass weinende Pensionisten ohne Geld vor leer geräumten Bankomaten sitzen“ (6. 7.). Wer hat dazu geführt?

Voll ist voll und nicht steigerbar. Somit bleibt offen, wie groß der finanzielle Vorsprung des amerikanischen Präsidentschaftsanwärters Jeb Bush ist: „Kein Kandidat hat eine vollere Wahlkampfkasse“ (12. 7.).
Im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten werden eigenartige Methoden angewandt. Inaktivierte Krankheitserreger werden geimpft, Bakterien mit Antibiotika behandelt (Wissen 11. 7.). Der Glaube an die Medizin soll deshalb nicht wanken, die zitierten Behauptung leiden bloß an sprachlicher Unschärfe.

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„Die Socke, die uns verrät“ lautet eine große Überschrift in der „Presse am Sonntag“ (21. 6.). Sie verrät hauptsächlich eines: Die Pflege des österreichischen Sprachgutes wird vernachlässigt. Den guten österreichischen Socken stellt sogar der Duden mit dem Vermerk „landschaftlich“ eigens vor. Nur wenige würden hierzulande „eine Socke“ kaufen.

Ähnlich gibt es einen siebenten Wochentag und nicht einen „siebten“. Womit auch in der Bewertung der Wiener Bezirke ein Fremdkörper steckt: „Wer sich den Siebten oder Achten nicht leisten kann, zieht den Dritten vor“ (4. 7.). Ich neige zum Siebenten.

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„Die Presse“ erhöht die Spannung, indem sie eine Kerninformation hinauszögert oder sogar verweigert. Der Papst ist in Bolivien und macht in der Stadt El Alto (spanisch „Die Höhe“) Station. „Der Papst im Höhenrausch“, lautet die Überschrift. Franziskus habe nur einen funktionsfähigen Lungenflügel und Angst vor dem „Soroche“, der Höhenkrankheit, denn er hält sich „in der höchstgelegenen Millionenstadt der Welt“ auf (10. 7.). Die Indizien für eine Höhenrauschlage erzwingen die Nachfrage: Wie hoch liegt die Stadt, wie nahe kommt der Papst dem Himmel? Überragt die Kirchturmspitze von El Alto etwa das Gipfelkreuz des Großglockners? Da bleibt der „Presse“ die Luft weg. Wikipedia weiß die Antwort sofort: Seehöhe 4100 Meter. Na also.

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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