Die brandgefährlichen Doppelspiele Erdogans

Bomben gegen Kurden, geheime Kooperationen mit dem IS: Endet der türkische Stratege in der Falle der eigenen Agenda?

Alarm in Ankara. Erstmals ruft der IS, der Islamische Staat, in einem Video zum Aufstand gegen „den Teufel Erdoğan“ auf, „der die Türkei an die PKK und die USA verkauft und den Islam verraten hat“. Ist die wirre Botschaft echt, heißt das: Big Peng am Bosporus. Krachendes Backfire für Recep Tayyip Erdoğans Strategien der verdeckten Agenda, der brandgefährlichen Doppelspiele. Dann ist das Vabanquespiel, den Feind des Feindes zu instrumentalisieren, sprich den IS gegen die kurdische PKK und gegen das Regime in Damaskus geheim zu stützen, während ihn die Verbündeten ziemlich erfolglos bekämpfen, verloren.

Risiko für die Nato

Mehr noch: Der türkische Präsident, der seit dem Verlust der absoluten Macht durch die moderate kurdische HDP ein Hasardspiel riskiert und den erst 2013 erlangten Waffenstillstand mit der kurdischen PKK aufkündigt, wird zum Sicherheitsrisiko der Nato-Gemeinschaft.

Doch der Reihe nach. Jüngst kehrten Freunde von ihrem Urlaub aus der Südwesttürkei zurück: „Alles war so super. Meer, Sonne, Essen, Ausflüge. Bis plötzlich Soldaten mit MGs zu unserer Sicherheit auf dem Strand, im Hotel, im Bus auftauchten. Richtig unheimlich war das. Das hat uns an Tunesien erinnert“, erzählten sie verstört.

Allein im Juli forderten An- und Gegenschläge in der Türkei über 100 Tote. Täglich kommen weitere hinzu. Tödliches Kalkül, nationalistische Ressentiments, ein wiederaufgeflammter Bürgerkrieg, der in der Vergangenheit 40.000 Menschen das Leben kostete – alles egal? Hauptsache der autokratische Herrscher bleibt allmächtig.

Wo ist das Veto der Nato? Aber die Granden chillen ja. Sind heilfroh, dass der renitente Partner am Bosporus endlich seine Militärbasen für die Luftschläge gegen des IS freigegeben hat. Das zählt in Washington. Nicht offenbar, dass die PKK mit ihren verbündeten Selbstverteidigungsverbänden dem IS die Stirn bot, ihm empfindliche Niederlagen zufügte, tausende Verzweifelte aus den Fängen der mordenden Horde rettete.

Türkische Urängste

Verrat statt Gerechtigkeit, Dreistes statt Vernunft. Erdoğan bekam von den USA – trotz europäischer Proteste – freie Hand gegen die als terroristisch eingestufte PKK. Deren Gebietsgewinne schüren türkische Urängste, die Kurden könnten entlang der Südgrenze einen Staat von der Wüste bis zum Meer erringen. Ihr Öl so auf den Weltmarkt bringen, zu einer Regionalmacht aufsteigen. Ein Albtraum für Ankara. Ergo: die PKK verteufeln, reizen, niederbomben.

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Erdoğan als Präsident nun Krieg gegen die PKK führt, nachdem er als Premier viel für die Kurden getan hat. Er versprach, das „Kurdenproblem“ friedlich zu lösen, anerkannte sie offiziell als die größte Minderheit, lockerte das Verbot der kurdischen Sprache, erlaubte Radio- und TV-Sender, pumpte Milliarden Euro in den Südosten des Landes. Und Recep Tayyip Erdoğan brach ein Tabu, suchte Kontakt zu dem seit 1999 inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Ließ geheim verhandeln, um im Jänner 2013 einen Waffenstillstand zu verkünden. Vieles schien gut.

„Terroristen-Highway“

In Wahrheit operierte der islamistische Stratege mit doppelter Agenda. Während die bewaffnete PKK mit dem Abkommen ihren Trumpf aus der Hand gab, ließ der islamische Führer Erdoğan den massenhaften Zuzug von Jihadisten nach Syrien zu. Beobachter berichteten, dass ab Sommer 2012 türkische Flughäfen zu islamistischen Extremisten-Lounges mutierten, die Türkei zum „Terroristen-Highway“ verkam, über den die meisten der etwa 18.000 ausländischen Kämpfer für den IS eingereist sind.

Damit nicht genug. Der deutsche Islamexperte Christoph Reuter belegt in seinem Buch „Die Schwarze Macht“: Bei getöteten IS-Angehörigen wurden mehrjährige, in Istanbul ausgestellte Aufenthaltsgenehmigungen gefunden, verletzte Jihadisten in türkischen Spitälern versorgt. Von Kurden festgenommene IS-Kombattanten gestanden in Verhören, in einem türkischen Camp ausgebildet, mit Kalaschnikows, Glock-Pistolen, türkischer MKEK-Munition und mit Geld ausgestattet worden zu sein.

Ihr Auftrag: Kampf gegen die Truppen Assads und gegen die der PKK. Erst im vergangenen Mai veröffentlichte die türkische Zeitung „Cumhuryet“ Bilder, die beweisen, dass der türkische Geheimdienst Waffenlieferungen für islamistische Kämpfer organisiert. Persönliche Reaktion des Präsidenten: Anzeige des Chefredakteurs wegen Spionage und Terrorverdachts. Investigative Journalisten am Bosporus leben gefährlich. Es drohen Einschüchterung, Haft, manchmal der Tod.

Bei all dem ist unglaublich, wie locker die westliche Militärelite mit Erdoğans Despotismus, dessen klandestinen Kooperationen mit dem IS, also dem eigentlich gemeinsamen Feind, umgeht. Kein Zur-Räson-Rufen, keine Sanktionen, keine Sondersitzung des Nato-Rats. Es ist Irrsinn im asymmetrischen Chaos.

Und nun? Welche Gottesstrafe werden die Mordbrenner im Kalifat gegen den eben gebrandmarkten „Verräter“ verhängen? Werden schon bald „Märtyrer“ auf den noch voll belegten türkischen Touristenstränden auftauchen? Oder – wie vor Tagen in Bangkok – Bomben bei Weihestätten hochgehen? Alles Horrorvisionen, die zum teuflischen Angst-und-Schrecken-Kalkül gehören. Gerade jetzt, da auch türkische F16 Jets – wenn auch zögerlich – IS-Stellungen bombardieren, die amikal-klandestinen Beziehungen gestört sind, steigt das Risiko.

Aber mittlerweile genügt beim IS nach all dem Morden, Köpfen, Kreuzigen bereits „die Propaganda der Tat“. Aus dem Geschäftsmodell der Drohung lässt sich risikolos Profit schlagen. Quälendes, Ungewisses für die Ungläubigen. So wollen es die von Saddams Schergen sozialisierten Masterminds des Terrorkalifats.

Unauffällige Unterwanderung

Ob der Hasardeur im Riesenpalast schlaflos ist? Er weiß um die Stufenstrategien des IS, die schlagend werden, sobald staatliche Ordnungssysteme brüchig werden – siehe aktuell Libyen, Sinai, Sahel: in kleinen Gruppen Dörfer unauffällig unterwandern, Schlüsselpersonen ausspionieren, erpressbar machen, dann überfallsartig agieren, unterwerfen, rauben, morden. Schließlich im Namen des Propheten die totale Kontrolle ausüben. So wird von den Islamisten erstmals Staat gemacht, so lockt er die Wütenden, die Entrechteten, ins „Paradies“.

Der Stratege der verdeckten Agenden und die Nato-Schlafwandler laufen Gefahr, von einem unkontrollierbaren Sog von IS-Unterwanderung, kurdischem Aufstand und ausgerastetem Militarismus mitgerissen zu werden. Doch tickt der Doppelstratege Erdoğan so? Setzt im tödlichen Chaos auf die Retterkarte, lässt das erschrockene türkische Volk wählen, und die „bösen Kurden“ wegsperren. So machen das Despoten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2015)

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