Die Balkan-Fürsten an der langen Leine der EU

In Wien findet diese Woche die Westbalkan-Konferenz statt: Wie hält man jemanden bei der Stange und zugleich auf Distanz?

In dieser Woche wird Angela Merkel in Wien erwartet. Anlass des Besuchs der deutschen Kanzlerin ist ein Westbalkan-Gipfel. Angesagt sind außer ihr die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, der italienische Ministerpräsident, Matteo Renzi, der für die Nachbarschaftspolitik zuständige EU-Kommissar, Johannes Hahn und natürlich Außenminister Sebastian Kurz als Gastgeber sowie ein Dutzend Regierungschefs und Minister von Staaten des Westbalkans. Diese Besetzung allein zeigt schon, dass die Sache in der Europäischen Union ziemlich wichtig genommen wird.

Warum für die Länder, um die es bei der Veranstaltung gehen soll, nämlich die sechs Republiken des ehemaligen Jugoslawiens einschließlich des Kosovo plus Albanien, immer noch der Begriff Westbalkan verwendet wird, weiß wahrscheinlich niemand zu sagen. Ursprünglich diente er dazu, Kroatien, das sich kulturell und historisch zu Mitteleuropa gehörig fühlt, auf Distanz zu halten, indem man es in einen Topf mit den übrigen Ex-Jugoslawen, vor allem Serbien, warf. Das hat sich unterdessen erledigt, Kroatien wird als EU-Staat nicht mehr dazugezählt, obwohl es bei der Tagung natürlich dabei ist.

Die Konferenz in Wien ist Teil des Berlin-Prozesses, der der Heranführung dieser Länder an die Europäische Union dienen soll. Konkrete Themen sind die „Verstärkung der regionalen wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit, insbesondere im Infrastrukturbereich sowie der Beitrittsprozess“. Stabilität und Wirtschaftswachstum in diesem Raum „liegen in unserem ureigensten Interesse“, erklärte Kurz, Stabilität sei jedoch keine Selbstverständlichkeit, wie etwa die jüngsten Ereignisse in Mazedonien zeigten. Durch die Förderung von konkreten Projekten möchte man die Länder „auf dem Weg in die EU unterstützen“. Eine absehbare Perspektive für einen Beitritt in den nächsten fünf Jahren gibt es aber wohlweislich für keines der Länder.

Zwanzig Jahre nach dem Ende der Balkankriege im Gefolge des Zerfalls Jugoslawiens wird der Westen gewahr, dass in Südosteuropa ein politisches und ökonomisches Vakuum entstanden ist, das sehr schnell auch zu einem Sicherheitsproblem werden kann, wie das halb vergessene Mazedonien zeigt, das durch die frivole Namenspolitik Griechenlands in die Isolation geführt wurde und am Rand des Bürgerkriegs steht. Bosnien und Herzegowina ist ohnehin ein Failed State von Anfang an und zu einem offenen Einfallstor für islamischen Radikalismus geworden.

Die Hoffnung auf Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft nach dem Zusammenbruch des Kommunismus – in Jugoslawien ohnehin um zehn Jahre verzögert – ist weitgehend unerfüllt geblieben. Die Privatisierung des von den Kommunisten den rechtmäßigen Eigentümern weggenommenen Vermögens als vermeintliches Staatseigentum hat dafür gesorgt, dass es in die Hände von kommunistischen Seilschaften geriet und so zur Bildung oligarchischer Strukturen beigetragen hat, wie sie für viele postkommunistische Länder charakteristisch sind. „Demokratisierung der Korruption“ nennt das ein Brüsseler Politiker offen und zynisch.

Besonders tragisch sind die Defizite in der Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit und der Reform der Justiz. Slowenien ist es gelungen, den Anschein zu erwecken, als hätte es nie zu Jugoslawien gehört. Obwohl es nicht zum Balkan gehört, sind die Zustände dort durchaus auch balkanisch. In einem Schauprozess im kommunistischen Stil wurde der ehemalige Ministerpräsident, Janez Jansa, genau während eines Wahlkampfes zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Verfassungsgerichtshof hat das Urteil unterdessen aufgehoben. Das kroatische Verfassungsgericht hat kürzlich Urteile gegen den ehemaligen konservativen Ministerpräsidenten, Ivo Sanader, aufgehoben. In beiden Ländern versteht sich die Justiz immer noch als Instrument politischer Abrechnung.

Dass der Beitritt zur EU auch unter strengeren Bedingungen noch kein alleiniges Heilmittel für eine gesunde Entwicklung ist, dafür liefert außer Slowenien auch Kroatien ein Beispiel. Der Systemwandel in dem Land bleibt schwierig. Seit der Gründung 1991 ist Kroatien, wie auch die anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens, eine Art Experimentierstaat. Mühsam mussten Institutionen aufgebaut und das Vertrauen der Bürger in den eigenen Staat gewonnen werden, oft gegen den stillen, aber hinhaltenden Widerstand der alten kommunistischen Eliten.

Kaum verankerter Staat

Von Menschen, die gelernt haben, dem Staat zu misstrauen, ja ihn zu fürchten, kann man schwer zivilgesellschaftliches Engagement verlangen. Ihnen kann man auch kaum erklären, dass der Staat für sie nur etwas tun kann, wenn sie zum Beispiel bereit sind, Steuern zu zahlen. Für diesen im Bewusstsein seiner Angehörigen ohnehin kaum verankerten Staat war der Beitritt zur EU kontraproduktiv. Die Bürger betrachten ihr Land nun erst recht als eine Übergangslösung und erwarten nichts mehr von ihm. Alles, vor allem natürlich Geld und Subventionen, soll nun von der EU kommen. Auch der Nationalismus kann das mangelnde Vertrauen in den eigenen Staat nicht ersetzen. Wie seinerzeit in Jugoslawien die D-Mark ist heute auf dem Balkan der Euro die eigentlich geltende Währung. Das trägt auch nicht gerade zum Vertrauen in das eigene Land bei.

Interesse an der EU lässt nach

Unterdessen hat auch in den Ländern selbst das Interesse an der EU nachgelassen. „Die Länder sind so klein, dass sie von einzelnen Leuten regiert werden können“, urteilt der Brüsseler Experte, „diese Balkan-Fürsten wissen, dass sie einen EU-Beitritt ihres Landes nicht überleben würden.“ In Mazedonien vertieft ein möglicher EU-Beitritt sogar die Spaltung im Land. Während der Regierungschef wenig Neigung hat, seine Fürstenrolle zu verlieren, möchte die mazedonische Opposition unbedingt in die Europäische Union, am liebsten gleich zusammen mit dem Kosovo und Albanien.

Im Umgang mit den Ländern des Westbalkans steht die EU vor einem bekannten Dilemma: Gibt sie konkrete Zeitversprechen und stellt sie Verhandlungen in Aussicht, erreicht sie damit nur, dass die Reformanstrengungen in den Ländern erlahmen, weil diese den Beitritt ohnehin in der Tasche zu haben meinen. Tut sie es nicht, erzielt sie denselben Effekt, weil man sich in den betroffenen Ländern sagt, er zahle sich ohnehin nicht aus, etwas für seine Beitrittsfähigkeit zu tun.

Rumänien und Bulgarien gelten als die abschreckenden Beispiele für einen verfrühten Beitritt. Die EU darf den Fehler nicht wiederholen, notwendige Reformen erst für die Zeit nach einem Beitritt zu erwarten, sondern möchte das vorher erledigt sehen. Also versucht man, die Länder irgendwie an der langen Leine zu halten. „Man muss sie bei der Stange und zugleich auf Distanz halten“, formuliert es ein wichtiger Teilnehmer an der Wiener Konferenz. Die Erweiterungsmüdigkeit in der EU hat noch einen anderen, sehr simplen Grund: Mit jedem neuen Mitglied wird der Einfluss der alten westlichen Mitgliedstaaten geringer.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2015)

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