Warum kein „Bürger-Bürgermeister“ für Wien?

Gastkommentar. Im internationalen Reformchor gilt die Direktwahl des Bürgermeisters als das Rezept zur Stärkung der lokalen Demokratie. Eigentlich wäre es höchste Zeit, dass auch der Wiener Bürgermeister auf diese Weise bestimmt wird.

Vor ihrer Machtübernahme im Rathaus 1920 sprach sich die SPÖ noch für ein Rathaus als reine Verwaltungsinstitution aus, mit einem unparteiischen Bürgermeister an der Spitze. Nach der Machtübernahme aber ging sie dann rasch dazu über, mit „ihrem“ Bürgermeister an der Spitze, die riesigen Ressourcen des Rathauses für ihre ideologischen Ziele und die Ämterpatronage zu instrumentalisieren.

In der hagiografischen Interpretation des früheren Wiener Stadtrats und Verfassungsrechtlers Manfried Welan ist das Amt des Wiener Bürgermeisters das „mächtigste unseres Verfassungslebens“. Es verleihe dem Inhaber eine „Führerstellung“, das ohnehin schon „potenzierte Organ“ des Bürgermeisters werde in Wien noch „zur Potenz“ erhoben.

Das Machtorgan reflektiert die eigene Macht selten, es übt sie aus. Aber immerhin verwahrte sich ein früherer Bürgermeister gegen die Erwartung, er sei der „Vormund“ des Gemeinderates.

Symbiose mit der Partei

Das Machtorgan hat neben exekutiver auch legislative Macht. Der Bürgermeister beruft den Gemeinderat bei Bedarf ein, er kann einen Beratungspunkt in einer Sitzung absetzen und als Ausfluss seiner „Notkompetenz“ einen Beschluss sistieren usw. Er kann den Vorsitz im Gemeinderat führen; er ist Vorsitzender der Stadtregierung und „Chef“ des Magistrates; er bereitet Beschlüsse des Gemeinderats (wie auch des Stadtsenats) vor und setzt diese um.

Die politische Macht entsteht durch die Symbiose des Organs mit der SPÖ. Der spätere Bürgermeister steht an der Spitze der Parteiliste für die Wahlen zum Gemeinderat und führt den Wahlkampf gegen die Konkurrenten. Nach dem Sieg seiner Partei mutiert er rhetorisch zum „Bürgermeister für alle“. Seine Wahl durch den Gemeinderat mit unbedingter Mehrheit ist ein nachholender Formalakt.

Am Abend des 11.Oktober wird in Wien die „Mutter aller Schlachten“ geschlagen sein. Hier zwei mögliche Szenarien zum Wahlausgang, keine Realprognose:
Im Alles-beim-Alten-Szenario bleibt Bürgermeister Michael Häupl im Amt und schmiedet mit ÖVP oder Grünen eine neue „Reformpartnerschaft“ (das Kabinett „Häupl VI“).
Denkbar aber ist auch ein Blockade-Szenario: Die SPÖ erleidet ein in ihrer Geschichte einmaliges Wahldebakel (ärger als 1996), und es sind fünf Parteien im Gemeinderat vertreten. Die FPÖ liegt nach Stimmen und Mandaten knapp vor der SPÖ und erhebt den Anspruch auf den Bürgermeister.

SPÖ, ÖVP, Grüne und Neos beginnen Sondierungen, Koalitionsverhandlungen zwischen drei Parteien ziehen sich über Wochen und Monate, was die Stadtverfassung erlaubt. Bürgermeister Häupl verhandelt und amtiert sichtbar lustlos im Rathaus. Neuwahlen hängen in der Luft. Das Blockade-Szenario hat einen harten Kern: Wer stellt unter welchen Bedingungen den Bürgermeister in der Stadt Wien.

Reformoption Direktwahl

Wie wär's aber, wenn die Wahlberechtigten den Wiener Bürgermeister in einer Direktwahl bestimmen? Im internationalen Reformchor ist die Direktwahl des Bürgermeisters das Rezept zur Stärkung der lokalen Demokratie. Wir ignorieren das apodiktische Nein der professoralen Verfassungsinterpreten, das mit einer qualifizierten Mehrheit des Gesetzgebers ohnehin seine Basis verlieren würde.

Rechtlich betrachtet ist der Wiener Bürgermeister eben primär Bürgermeister, der quasi gleichzeitig und nebenher das Amt des Landeshauptmannes ausübt (wofür der faktische Beweis leicht geführt werden kann). Man könnte die Wahlberechtigten (nach englischem Vorbild) in einem verbindlichen Referendum fragen, ob sie die Direktwahl wollen oder nicht. Danach wäre ein personenzentrierter Wahlkampf um den Bürgermeister durchzuführen. Erwartet werden könnten demokratische Effekte:

Vision „Bürger-Bürgermeister“

Der Bürgermeister würde persönlich sichtbarer, hätte ein persönliches Mandat und eine persönliche Legitimation vom Wähler. Er könnte leichter vonseiten der Bürger zur Verantwortung für Entscheidungen gezogen werden (auch weil er sich nicht auf seine amtsführenden Stadträte ausreden könnte). Sein Handeln wäre nach außen gerichtet – er würde offen mit allen Bürgern kommunizieren und sie aktiv in die Entscheidungsprozesse einbeziehen – anstatt das Elektorat im Parteiinteresse zu mobilisieren und zu spalten (siehe Volksbefragungen in Wien). Im bürgerzentrierten System hätte der Bürgermeister eine starke Stellung gegenüber oder gegen die Parteien.

Was wäre eine einfache, machbare, aber dennoch visionäre Option zur Verhinderung des Blockade-Szenarios? Es ist der „Bürger-Bürgermeister“, den ein einsichtiger Wiener Gemeinderat mit großer Mehrheit ohne Verfassungsänderung wählen könnte.

Der seit 1920 unveränderte Paragraf 36 der damaligen Gemeindeordnung (heute wortgleich der Paragraf 31 der Stadtverfassung) regelt lapidar, der Bürgermeister müsse nicht dem Gemeinderat angehören, nur für ihn wählbar sein. Wählbar ist, wer am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat und das aktive Wahlrecht besitzt (die Paragrafen 16 bzw. 42 der geltenden Gemeindewahlordnung).

Diese Voraussetzungen erfüllen mehr als 1,1 Millionen Wahlberechtigte für den Gemeinderat. Sie sind alle potenzielle Wiener Bürgermeister (wie alle österreichischen Wahlberechtigten rechtlich betrachtet Bundeskanzler werden könnten). Diese „basisdemokratische“ Implikation hatte der historische Gesetzgeber nicht mitbedacht, als er einst diese Regelung einführte.

Offene Ausschreibung

Wir stellen uns eine offene Ausschreibung des Amtes mit einem Qualifikationsprofil vor, das ein Bürgermeister zu erfüllen hat. Langjährige Parteifunktionen sind kein zwingendes Kriterium für eine Bewerbung, vielleicht sogar ausschließend. Eine nach dem Zufallsprinzip besetzte Bürgerkommission filtert mit Unterstützung von Experten geeignete Bewerber heraus.

Diese stellen sich in einer bürgeroffenen Sitzung des Gemeinderats vor. Danach wählt der Gemeinderat mit absoluter Mehrheit den neuen Bürgermeister, falls notwendig im zweiten Wahlgang mit einfacher Mehrheit. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los zwischen zwei Bewerbern.

Vertreter des heutigen Parteienstaates werden an diesem Vorschlag natürlich kein gutes Haar lassen. Parteien seien schließlich notwendig, weil die träge und amorphe Masse der Bürger ohne den Wettbewerb der Parteien um Macht und Durchsetzung von Ideologien und Interessen keinen demokratischen Ausdruck finden würde.

Wir erinnern nur grundsätzlich daran: Gemeinde wurzelt in Gemeinschaft, Selbstinteresse und Verantwortung für eigene Belange. Deshalb kann Souveränität nicht auf nackte Teilhaberechte der Staatsbürger reduziert werden, die in temporären Wahlakten über in kleinen Foren erstellte Parteilisten entscheiden dürfen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Werner Pleschberger
(* 1950 in Krems/Kärnten) studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft. Ao. Universitätsprofessor an der Wiener Uni für Bodenkultur und als Politikberater tätig. Schwerpunkte: politisches System in Österreich und Entwicklung von politischen und wirtschaftlichen Strategien. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2015)

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