Technokratisches Blinzeln in die Zukunft

Technologische Verbesserungen sind unerlässliche Voraussetzung für den Fortschritt. Aber mit ihnen allein werden wir die viel umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme nicht lösen können.

Hannes Androsch hat als Vorsitzender des Rates für Forschung und Technologieentwicklung und als Herausgeber in Alpbach ein sehr umfangreiches Buch vorgestellt. Titel: „Die Gestaltung der Zukunft: wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Dimensionen von Innovation“, ein Sammelwerk von fast 600 Seiten. Zusammen mit Johannes Gadner schrieb er auch die ausführliche Einleitung.

Wer bisher die eine oder andere Sorge um die Gestaltung der Zukunft des Landes gehabt haben mag, könnte nun eigentlich beruhigt sein. Da der Blick in die Zukunft hierzulande tunlichst vermieden oder sie überwiegend als dumpfe Bedrohung gewohnter Verhältnisse gesehen wird, ist die seriöse Beschäftigung mit Schlüsselfragen der weiteren Entwicklung auf jeden Fall verdienstvoll. Die Beiträge angesehener Experten könnten und sollten tatsächlich als Ausgangspunkte für Initiativen sein, „heute zu beginnen, an morgen zu arbeiten“.

Starke Schlagseite

Dass dies geschehen wird, ist zu bezweifeln. In Wirklichkeit werden die, die es angeht – Regierung, Minister, Räte aller Art – entweder behaupten, dass „an morgen zu arbeiten“ ohnehin schon im Gang sei, oder sie werden auf Anfrage verkünden, dass sie dieser Vorgabe ohnehin immer schon größte Bedeutung beigemessen hätten.

Die Schlussfolgerungen aus dem Buch wären vielleicht eher umzusetzen, enthielte es eine Zusammenfassung und konkrete Vorschläge. So besteht leider die Gefahr, dass das Buch „in den Gremien“ hin- und hergeschoben und dann abgelegt wird. Androsch vorzuwerfen, nicht an die Umsetzung zu denken, wäre unfair. Er gehört zu den wenigen, die sich persönlich engagieren, gerade auch in Schicksalsfragen dieses Landes.

Die Androsch-Gadner-Einleitung weist eine starke Schlagseite zugunsten technischer Problemlösungen auf. Sie wird in diesem Genre wahrscheinlich nicht die letzte sein, auch wenn längst erkennbar ist, dass nur das Zusammenwirken von technischen und gesellschaftlichen Innovationen Fortschritt verspricht. Obwohl der Untertitel des Buches auch gesellschaftliche und politische Dimensionen verspricht, wird beinahe die ganze Geschichte der Menschheit als Abfolge innovativer Technologien und technologischer Zyklen verstanden. Kulturelle Zusammenhänge, institutionelle Machtverhältnisse, soziale und ethische Zielvorstellungen, geistige und kulturelle Dimensionen dessen, was Fortschritt ist, bleiben weitgehend ausgespart.

Das übersieht fast ganz, dass die Entwicklungskrise, in die die westlichen, vor allem die hoch entwickelten europäischen Länder vor gut einem Jahrzehnt geraten sind, sehr wenig mit Mangel an Technologien zu tun hat. Die Überwindung der Krise könnte vielleicht durch neue Technologien erleichtert werden. Man denke etwa an das Energie- und Klimaproblem. Technische Problemlösungen können allerdings auch neue Risken heraufbeschwören.

Irrationale Technikskepsis

Ich stimme zu, dass Österreich unter einer ausgeprägten, irrationalen Technikskepsis leidet, und dass dies nachteilige Folgen heute und in Zukunft hat. Aber unser Land leidet mindestens ebenso sehr an Teilnahmslosigkeit in Bezug auf die Erneuerung der gesellschaftlicher Verhältnisse. Dass sich eine Welle schrecklich betroffener Flüchtlinge nach Österreich durchschlägt, ist keine technologische Herausforderung. Über die technischen Möglichkeiten, diese Menschen menschenwürdig zu behandeln, verfügt Österreich und verfügen auch Mazedonien oder Griechenland. Ebenso über die Technologien, die die Bekämpfung von Hunger und Elend in Afrika erfordern.

Aber das genügt nicht. Dass Europas Dynamik insgesamt erlahmt ist, hat nicht viel mit einem Zurückbleiben im technologischen Wettlauf zu tun. Selbst effiziente Klimapolitik leidet nicht so sehr an ungenügenden technischen Möglichkeiten. Der verfügbare State of the Art würde noch Jahre erlauben, den Karbonausstoß entscheidend zu senken. Das verloren gegangene Vertrauen in das Sozialsystem und die Altersvorsorge kann durch neue Technologien nur sehr indirekt wiedergewonnen werden.

Das Kernproblem sind ernsthafte Auseinandersetzungen über die Verteilung von Volkseinkommen und Volksvermögen innerhalb der heutigen Gesellschaft und zwischen dieser und kommenden Generationen.

Woran EU-Länder kranken

Woran Österreich und auch die meisten anderen EU-Länder kranken, sind eklatante Mängel in der gesellschaftlichen und politischen Organisation, die aus besseren Zeiten stammt und in der globalisierten Welt nicht mehr haltbar ist. Woran es fehlt, sind gesellschaftliche Innovationen für die fundamentalen Probleme der Gegenwart: wachsende Ungleichheit, unrealistisch gewordene Lebens- und Arbeitsvorstellungen, überholte Staatsmodelle, versteinerte Machtstrukturen, Entfremdung von der real existierenden Politik, Behandlung des äußerst schwierigen Postulats der Nachhaltigkeit.

Das Wort governance kommt nicht oder nur am Rand vor. Schweden oder Dänemark sind Österreich in mancher Hinsicht überlegen, nicht weil sie über mehr oder innovativere Technologien verfügen, sondern weil sie bessere staatliche und gesellschaftliche Institutionen entwickelt haben. Die Mängel staatlicher Organisation sind eines der Hauptprobleme unserer Gesellschaft.

Einem im Grund industriell-technokratischen Weltverständnis entspricht die an sich verdienstvolle Tätigkeit des Rates für Forschung und Technologieentwicklung. Sicher sind die Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften mit ihren oft wenig überprüfbaren Methoden, ihrer disziplinären Engstirnigkeit und allzu akademischen Fragestellungen nicht unschuldig an der Misere ihrer Förderung.

Angelangt an neuen Schranken

Aber dass ein international hervorragend bewertetes Projekt interdisziplinärer und anwendungsorientierter Alterns- und Generationenforschung in Österreich vergeblich öffentliche Unterstützung sucht, könnte, wenn schon nicht auf politische Realitätsverweigerung, dann auf genau diese technokratische Schlagseite der Forschungsförderung zurückgehen.

Nicht das politische Ziel, im globalen Wettbewerb auch technologisch mithalten zu können, ist problematisch. Selbstverständlich sind technologische Verbesserungen unerlässliche Voraussetzung auch für gesellschaftlichen Fortschritt. Zu ihnen fähig zu sein, sichert aber noch nicht die Gestaltung der Zukunft, noch nicht eine erstrebenswerte Lebensqualität.

Wir sind in den entwickelten Regionen der Erde nicht an technologischen Schranken angelangt, sondern an gesellschaftlichen, kulturellen, wohl auch an humanitären. Die Überwindung der technologischen Herausforderungen löst nicht die viel umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme. Die eine Aufgabe ist eine Voraussetzung, die andere besser lösen zu können. Und umgekehrt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR


Prof. Helmut Kramer
(* 1939 in Bregenz) war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo); ab 1990 Honorarprofessor an der Universität Wien; von 2005 bis 2007 war er Rektor der Donau-Universität Krems; derzeit ist er Vorsitzender der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen. [ Clemens Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.