Sprachforschung: Zurück ins 19. Jahrhundert. . .

Soll die Erforschung des Österreichischen Deutsch künftig mit den Mitteln des Wissenschaftsrevisionismus erfolgen?

Vor ein paar Wochen wurde bekannt, dass der österreichische Wissenschaftsfonds FWF einen Sonderforschungsbereich für „Deutsch in Österreich“ auf vier Jahre mit 17 neu zu schaffenden Stellen eingerichtet hat. Nutznießer dieser erstaunlichen Entwicklung sind drei Germanistik-Institute, das Slawistik-Institut bzw. das Institut für Translationswissenschaften der Uni Wien.

Erstaunlich ist dabei vieles: War es zuvor beim FWF kaum möglich, für linguistische Projekte Gelder zu bekommen, werden auf einmal 2,5 bis drei Millionen Euro zur Verfügung gestellt!

Man kann den Hauptakteuren – Frau Lenz von der Germanistik Wien und Herrn Elspass von der Uni Salzburg – daher dazu nur gratulieren. Und dazu, dass dies ohne (a) das übliche Peer-Reviewing, (b) ohne Befragung von einschlägig auf diesem Gebiet ausgewiesenen Experten in Österreich, (c) ohne eine gründliche Vorstudie – etwa im Delphi-Format –, die die zu erforschenden Desiderata eruiert, zustande gekommen ist und (d) ohne eine öffentliche Ausschreibung, die eine Bewerbung anderer Institutionen ermöglicht hätte.

Fragwürdige Vergabepraxis

Das ist Intransparenz im Stil vergangener Jahrhunderte. National und international üblich ist bei so großen Projekten nicht nur das Peer-Reviewing, sondern auch die Abhaltung öffentlicher Hearings, in denen ein solches Projekt vor einem Fachpublikum verteidigt werden muss. All das ist nicht geschehen, was massiv Fragen zur Vergabepraxis des FWF aufwirft.

Dieser Eindruck wird noch durch die seltsam verschrobenen Sätze verstärkt, mit denen Projektziele beschrieben werden. Beispiel: „Teilprojekt 02 zielt auf eine umfassende Untersuchung der aktuell gesprochenen österreichischen Dialekte und ihrer gegenwärtigen Dynamik, die teilweise auf regionale Prozesse von sprachlicher Konvergenz und Divergenz auf der Grundlage verschiedener basilektaler Substrate, teilweise auf Advergenz zu den Standardvarietäten zurückgeführt wird.“ Oder: „Wie steht es um die Perzeption und Konzeptualisierung von standardsprachlichen bzw. standardsprachnahen Varietäten/Sprechlagen des deutschsprachigen Gesamtspektrums?“ Kann jemand erklären, was das bedeuten soll?

Die Anwendung von auch nur einer der zuvor genannten Maßnahmen zur Sicherung der Forschungsqualität hätte eine lange Liste von Einwänden ergeben, von denen nur einige aufgezählt werden können. In der derzeitigen Konzeption betreibt der Sonderforschungsbereich Wissenschaftsrevisionismus auf mehreren Ebenen:
Erstens: Terminologisch durch die Verwendung des Begriffs „Deutsch in Österreich“ (DiÖ) anstatt „Österreichisches Deutsch“ (ÖD), der durch die Diskussion in den 1980er-Jahren aufgegeben, jetzt aber wieder von den aus Deutschland gebürtigen Professoren eingeführt wurde und nicht zufällig gewählt ist, da diese die Plurizentrik als Sprachbeschreibungsmodell ablehnen, stattdessen das sogenannte pluriareale Modell propagieren, womit man das ÖD von einer nationalen Varietät mit einer Funktion für die Identität Österreichs und seiner Bewohner zu einer beliebigen regionalen Form des Deutschen herabstuft.

Der international übliche Begriff ÖD betont hingegen, dass die Gestaltung der jeweiligen nationalen Varietät einer plurizentrischen Sprache von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des jeweiligen Landes ausgeht und diese Form der Sprache Teil der Identität des Landes und seiner Bevölkerung ist. Mit DiÖ wird der Identitätsaspekt für Österreich völlig ausgeklammert und stattdessen eine allgemeine Norm vorausgesetzt und erforscht, ob sie in Österreich realisiert wird.

35 Jahre Forschung ignoriert

Das wird daran deutlich, dass drei von vier Teilprojekten auf die Erforschung des Sprachbereichs „Zwischen Dialekt und Standard“ abzielen. Auf diese Weise werden dominante Sprachnormen deutschländischer Herkunft auf das ÖD angewandt und nicht umgekehrt der durchschnittliche übliche Sprachgebrauch Österreichs als Standard bestimmt. Dass es nicht primär um das ÖD geht, zeigt sich, wenn es heißt: „Welche sprachlichen Elemente und Phänomene sind [...] konstitutiv für die standardsprachlichen Varietäten des Deutschen?“ (nicht des ÖD).

Es handelt sich hier um den massiven Versuch, 35 Jahre Forschung zum ÖD auf plurizentrischer Basis rückgängig zu machen und sprachpolitische Sichtweisen der dominanten deutschländischen Varietät durchzusetzen.
Zweitens: Verstärkt wird dieser Eindruck auch dadurch, dass viele Forschungsergebnisse zur Phonetik/Phonologie/Morphologie usw. des ÖD der letzten 35 Jahre einfach ignoriert werden und nochmals erforscht werden sollen, als ob es dazu keine Daten gäbe.
Drittens: Die fast ausschließliche Ausrichtung auf Dialektforschung: Mit Ausnahme von zwei slawistisch und computerlinguistisch ausgerichteten Teilprojekten beschäftigen sich vier von fünf der Teilprojekte mit der Erforschung der Dialekte in Österreich.

Fokus auf die Dialekte

Hier ist zu fragen: Welchen Erkenntnisgewinn und Wert soll es für die österreichische Gesellschaft haben, wenn erforscht werden soll, „wo etwa Dialekte aufhören und Regiolekte anfangen“, „Variation und Wandel dialektaler Varietäten in Österreich“ und „individuelle Sprachrepertoires in ländlichen Regionen Österreichs“, wo doch rund 75 Prozent der Bevölkerung in Städten wohnen und vom Rest 90 Prozent davon in Städte zur Arbeit pendeln?

Die massive Ausrichtung an dialektologischen Fragestellungen zeigt, dass hier mit einem Sprach- und Gesellschaftsmodell des 19.Jahrhunderts gearbeitet wird, das durch gesellschaftliche Entwicklungen längst überholt ist. Weder sind die Menschen wie früher einsprachig, noch ist der Gebrauch der nicht standardsprachlichen Varianten des ÖD mit sozialer Stigmatisierung verbunden. Das hat sich (glücklicherweise) geändert und zeigt sich etwa an Fernsehsendungen wie der „Millionenshow“ oder „Was gibt es Neues?“, in denen Alltagsösterreichisch gesprochen wird und sich niemand in Österreich darüber aufregt.

Was also sollen derartige Fragestellungen bewirken? Die UNO kennt den Begriff des „nation building“, zu dem auch eine Klärung der nationalen Sprachen/Sprachnormen gehört, wodurch ihr sprachliches Selbstverständnis definiert wird. Die adäquate Beschreibung des ÖD auf Basis der Normen des durchschnittlichen Sprachgebrauchs in Österreich ist ein wesentlicher Beitrag zum „nation building“ Österreichs, das heuer seinen 70. Geburtstag feiert.

Neuausschreibung geboten

Der vorliegende Sonderforschungsbereich erfüllt diese Aufgabe offensichtlich nicht und verspricht auch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die dem State of the Art der Forschung entsprechen. Das sollte man nicht vergessen, wenn Steuergeld in einem solchen Umfang verwendet wird. Die gründliche Überarbeitung der Forschungsziele und eine Neuausschreibung des Sonderforschungsbereichs sind daher geboten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Rudolf Muhr
(* 1950) ist Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter einer dortigen Forschungsstelle, die seit 1966 das Österreichische Deutsch erforscht; Gründer des Universitätslehrgangs Deutsch als Fremdsprache. Diesen Gastkommentar verfasste er im Namen des Vorstands der Gesellschaft Österreichisches Deutsch. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2015)

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