Abendland, Morgenland und Europa

Es ist die Aufgabe der europäischen Akademiker und Intellektuellen, für die Rekonstruktion eines Europa-Diskurses einzutreten, der die Heterogenität der europäischen Identität besonders betont.

Neu an den letzten Debatten und Äußerungen im Wahlkampf rund um Kreuz und Abendland ist der Kontext: Das „Abendland“ wird hier nicht als Antonym dem „Morgenland“ gegenübergestellt, sondern dem Konzept Europa entgegengesetzt. Es handelt sich hier meines Erachtens um Konstrukte und Diskursformen, die mindestens in einer bestimmten Form keine Erschaffung ex nihilo darstellen. Dies ist ein Konstrukt bzw. ein Diskurs, der eine Revitalisierung eines Abendlandes anstrebt, in dem der andere – in diesem Fall die Muslime und Musliminnen – als eine existenzielle Gefahr für eine propagierte religiöse und kulturelle Puritanität erscheinen. Dieses angerufene Abendland ist ein Abendland, das mit Kreuzzügen und Religionskriegen als Umgangsform mit den Andersgläubigen assoziiert wird; ein Abendland der Pogromen und der Verfolgungen gegen Juden und Jüdinnen – in diesem Fall waren sie die Verkörperung des anderen in Europa; ein Abendland, in dem die heilige Inquisition als tödliches machtpolitisches Instrumentarium gegen Andersdenkende wirkte, die als Häretiker galten wie z.B. Giordano Bruno (gest. 1600) oder die Marranen, die als zum Christentum zwangskonvertierte Juden (Conversos) und Muslime (Moriscos) verfolgt und vertrieben wurden. Ein Bild wie das des Inquisitors mit dem Kreuz hoch erhoben in der Hand blieb uns in diesem politischen Wahlkampf nicht erspart.

Verzerrte Selbstwahrnehmung

Es ist eine Ironie, dass ein solcher Diskurs des Abendlandes, der vor der Dekadenz Europas durch „die eingedrungene fremde islamische Drohung“ warnt, sich meiner Meinung nach als der treibende Faktor und tragende Diskurs entpuppt, der tatsächlich zur Dekadenz Europas führen kann. Die Revitalisierung eines solches Konstruktes vom Abendland führt im Grunde zu einem Untergangsszenario von Europa als Modell für eine vitale, dynamische, offene, plurale Gesellschaft und Wertegemeinschaft. Die Reinkarnation inquisitorischer Diskursformen in der Politik richtet sich primär gegen ein Europa der Menschenrechte und der Aufklärung als dynamischer Prozess, der offen und liberal ist.

Dieser Abendland-Diskurs, der sich auf eine historische verzerrte und verarmte Selbstperzeption aus der Geschichte Europas beruft, bedient sich dieser als Legitimationsmoment und beansprucht die Geschichte/Vergangenheit für die Argumentation. Es ist aber notwendig, das historische Bewusstsein Europas über diese reduktionistische Verzerrung hinaus zu konstruieren und reflektieren: Teil der europäischen Geschichte und ein Konstituant ihrer kulturellen Blüte war der Islam in philosophischen und theologischen sowie in den naturwissenschaftlichen Diskussionen, z.B. in Andalusien, über ein Jahrtausend lang, aber auch in Sizilien. Die Kontinuität dieser besonderen andalusischen Kulturgeschichte, die durch religiöse Toleranz zwischen Muslimen, Juden und Christen geprägt war, setzte sich zunächst auch unter christlicher Herrschaft in Toledo und in Sizilien unter Friedrich II. fort.

Errungenschaft der Aufklärung

Es ist also kein Novum, wenn sich heute ein Europa-Diskurs der religiösen, kulturellen, sprachlichen und ethnischen Vielfalt entwickelt – denn dieses Europa hat es gegeben, ist historische Realität. Europa blickt nicht nur auf eine Geschichte der Inquisition, der Religionskriege und des Faschismus zurück. In Europa fand der andalusische muslimische Gelehrte und Philosoph Ibn Ruschd (Averroes) seine Kontinuität, und der Averroismus prägte die europäische Philosophie und theologischen Dispute jahrhundertelang. Maimonides (Ibn Maimun), der andalusische jüdische Theologe und Religionsphilosoph, provozierte durch seine Schriften lebhafte Diskussionen in Europa, und sein Einfluss war bis in die Aufklärung zu spüren, z.B. bei Moses Mendelssohn (gest. 1786).

Eine weitere Problematik, die im Zusammenhang der letzten Debatten im Zuge des EU-Wahlkampfs stärker betont werden soll, ist meines Erachtens die säuberliche Trennung zwischen Politik und Religion, denn Säkularität ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Ich kann mir vorstellen, dass sich Menschen fundamentalistisch-islamistischer Gesinnung – nicht nur in Europa – über die Vermischung von Religion und Politik freuen, darin eine Selbstbestätigung bzw. ihre Parallele sehen und sich mit einem Lächeln die Hände reiben. Politischer Radikalismus und religiöser Fundamentalismus kennen keine Patentrechte, denn es gibt keine Religion und keine Gesellschaft, die per se dagegen immun ist.

Es ist vielleicht nicht uninteressant, daran zu erinnern, dass der frühere Ansatz für diese Trennung zwischen der religiösen Wahrheit und der weltlichen philosophischen Wahrheit durch die Lehre der doppelten Wahrheit eines der Grundprinzipien und der Lehren des Averroismus ist. Dieses Grundprinzip sollte auch unsere muslimischen Mitbürger zum Nachdenken anregen, wie Säkularisierung und Islam zu vereinbaren sind.

Populistische Versuchungen, die sich hetzender rassistischer Parolen bedienen, dürfen nicht politisch salonfähig gemacht werden. Es ist eine verblüffende Kurzsichtigkeit und ein Zeichen von Dekadenz für die Politik, wenn politische Aussagen durch Wahlkampfmanager und politische Marketingmakler gemäß dem politischen Konsumverhalten entworfen werden. Es ist ein Dilemma, wenn die Politik nicht mehr konstruktive humanistische Werte produzieren und vermitteln kann und zu einer Art und Form eines pseudomodernen Managements wird. Politische Verdrossenheit und Desinteresse sind natürliche Folgen und Symptome solcher Entwicklungen.

Faschistoider Abendland-Diskurs

Es ist meines Erachtens die Aufgabe der europäischen Akademiker und Intellektuellen, für die Rekonstruktion eines Europa-Diskurses einzutreten, der die Heterogenität der europäischen Identität – sowohl historisch als auch gegenwärtig – und die fruchtbare Vielfalt der europäischen Geschichte besonders betont, um der Revitalisierung eines exklusivistischen, inquisitorischen, faschistoiden Abendland-Diskurses entgegenzuhalten.

Dr. Jameleddine Ben Abdeljelil ist Philosoph und Islamwissenschaftler an der Universität Wien und Mitglied der Initiative Muslimische Intellektuelle für die Aufklärung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2009)

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