Wahlanalysen in Perioden fokussierter Verleugnung

Das richtige Verstehen der Signale, die die Menschen bei Wahlen aussenden, ist Voraussetzung für das politische Geschäft.

Dem wahlkämpfenden Wiener Bürgermeister Michael Häupl wurde 2005 der Satz zugeschrieben, dass Wahlkampf die „Zeit der fokussierten Unintelligenz ist“. Was als Replik auf eine Aktion der damaligen SPÖ-Jugend gedacht war, die vorsah, dass man Mitglieder der damaligen (schwarz-orangen) Bundesregierung als Watschenmann traktieren konnte, muss wohl auch als resignierendes Zugeständnis über Zuspitzungen und Übertreibungen in Wahlkampfzeiten gelten lassen.

Wie schaut das dann mit den Perioden der Nachwahl-Analyse aus? Der etikettierende Sager für diese Periode fehlt noch. Jedenfalls finden vielfältige Verkürzungen, Verleugnungen und Verzerrungen statt, die alle daraus resultieren, dass die Akteure oftmals überfordert sind, um ein Wahlergebnis klar und deutlich anzunehmen. Dadurch wird Platz frei für die Verdrängung von Fakten oder gar für aggressive Beschuldigungen. Kaum ein journalistischer Praktikant, der sich nicht darüber traut, in Manier eines Welterklärers das Verhalten der Wähler zu deuten und je nach persönlicher Präferenz Noten zu verteilen.

Politik ist auch Handwerk

Bei Wahlkämpfen ist übrigens auch ein unsichtbarer Rahmen auszumachen, innerhalb dessen ein akzeptierter Wahlkampf stattfinden soll. Sich darin zu bewegen, ist gut und brav. Wehe aber, man überschreitet ihn – sogleich ist abwertend von Populismus, Hetze und Aufwiegelung die Rede. Erfolglose Parteien rechtfertigen sich dann damit, da nicht mitmachen zu wollen. Der Misserfolg wird rationalisiert, man sei einfach nicht durchgekommen mit seiner Botschaft.

Wahlkampfmanager sind keine Klosterschüler. Sie sind vielmehr auf Erfolgsdruck programmiert, die für diesen Erfolg vieles machen. Politik und damit auch Wahlbewegung ist aber immer auch Handwerk – nicht nur Mundwerk. Und Handwerk wird nicht von allen beherrscht. Das Eingeständnis, schlicht unfähig zu sein, um Politik oder Wahlkampf zu machen, das wollen sich Politiker nicht leisten.

Wenn nun Beweggründe und Mechanismen ausgeforscht werden, die die Menschen zur Veränderung ihres Wahlverhaltens bewogen haben, machen viele Motivforscher eine Gratwanderung zur kollektiven Wählerbeschimpfung, zumindest aber einer fragwürdigen Bewertung des Wählerverhaltens.

Kann man 30 Prozent der Wähler als Angsthasen abtun, die wegen ihrer Furcht vor Flüchtlingen so gewählt haben? Kann man mehr als 80.000 Wähler, die die oberösterreichische ÖVP in Richtung FPÖ verlassen haben als temporär Verirrte sehen, die nur die Botschaft nicht verstanden haben?

Was Menschen zu ihrer Wahlentscheidung motiviert, ist sicherlich komplex, die Theorien der Motivation in der Psychologie sind nur Erklärungsversuche. Theorien zur Motivation von makrosozialen Strukturen wie Gesellschaften sind überhaupt noch unterentwickelt. Auch mit Hausverstand und pragmatischer Ursachensuche kann man Wählerverhalten interpretieren.

Oberösterreichs Landeshauptmann, Josef Pühringer, lamentierte, dass er in eine Watsche gelaufen sei, die er nicht verdient habe. Er vergisst dabei, dass die Bevölkerung genau beobachtet, wie Landeshauptleute sich mit der bundespolitischen Ebene in Wien eine Hilflosen- und Schuldenholding halten, in die sie ihre politischen Schützlinge entsenden. Für solche Machtspiele haben immer mehr Menschen immer weniger Verständnis – überhaupt, wenn die Sachprobleme ungelöst bleiben.

Auch der Umgang der Politiker untereinander wird reflektiert, Vorbildverhalten wird angemahnt. Noch gut erinnerlich ist, wie gerade der Herr Pühringer vor einem Jahr seinen Bundesparteiobmann Michael Spindelegger in gar nicht christlicher Manier in die Wüste schickte, um seinen Landsmann Reinhold Mitterlehner auf diesem Posten zu installieren.

Das Ausrinnen der SPÖ

Dass die SPÖ immer noch in Richtung FPÖ ausrinnt – und das ausgerechnet im österreichischen Industriestandort schlechthin –, muss wohl in einem größeren Zusammenhang gesehen werden: nämlich, dass die europäische Sozialdemokratie mit ihrem programmatischen Bestand nicht mehr im Verdacht steht, für eine erfolgreiche Politikgestaltung moderner und auf Migration basierender Industriegesellschaften brauchbare Beiträge zu liefern.

Die Organisation und Entwicklung des Produktionsfaktors Mensch in der heutigen Industrie findet keine Entsprechung in sozialdemokratischen Politik-Konzepten. Was die Frage der Gerechtigkeit in der Gesellschaft anbetrifft, wäre diese bei christdemokratischen Politik-Konzepten wohl besser aufgehoben. Dass die ÖVP in Österreich hier auslässt, ist nur ein länderspezifisches Phänomen. Für die ÖVP haben die Wahlen in Oberösterreich aber einen schmerzhaften Befund gebracht.

Irritierte ÖVP-Wähler

Der gewaltige Wählerabfluss in Richtung FPÖ signalisiert eine wahrgenommene „kognitive Dissonanz“, wie Psychologen sagen würden. Viele Menschen irritiert, dass es offensichtliche Unterschiede zwischen den erklärten Werten und Grundsätzen einer Partei und ihrer praktizierten Tagespolitik gibt. Der Aphorismus des Schweizer Pfarrers Jeremias Gotthelf „Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande“ hätte Perspektive und Auftrag zu sein.

Man kann nicht auf das wertkonservative Elektorat als quasi pragmatisiertes Wählersegment bauen, diesen Wählern aber ständig kommunizieren, dass sie ohnehin antiquiert und von gestern seien, und man „moderner“, „weiblicher“ und „jünger“ werden müsse. Man wird dann einfach nur kleiner. Man kann nicht für eine Sicherheitspolitik der gesicherten Grenzen eintreten und im Ernstfall einer Flüchtlingsbewegung ein offenes Haus sein, aber dann bei deren Registrierung überfordert sein.

Man kann nicht für das Leistungsprinzip eintreten, aber gleichzeitig in Linz und im Bund in Wien in Regierungskoalitionen verharren, die Österreich wirtschaftspolitisch auf Schleuderkurs bringen.

Wäre Josef Pühringer je ein Stratege gewesen, hätte er schon 2009 das schwarz-grüne Experiment – von ein paar inzwischen im reifen Alter angekommenen 68er-Fantasten erträumt – beendet, das wegen des oberösterreichischen Vorbildcharakters inzwischen in drei westlichen Bundesländern nachgeahmt wird, obwohl es in eine evolutive Sackgasse führt. In der bayrischen Nachbarschaft hätte sich Oberösterreich nach Alternativen umschauen können.

Politisches Ärmelaufkrempeln

Grün-Parteien in Europa sehen einem weiteren Bedeutungsverlust entgegen. Ihr Hauptthema Umwelt ist zum politischen Allgemeingut geworden, und für Selbstverwirklichungsfantasten ist kein Platz in Zeiten der Krise. Das gilt auch für die Neos. Die Frage, welchen konkreten Beitrag sie zur Politikgestaltung beisteuern können, ist noch immer zu beantworten.

Ohne Ärmel aufkrempeln bei den Parteien ist kein Staat zu machen. Das richtige Verstehen der Signale, die die Menschen gerade bei Wahlen aussenden, ist jedoch die unerlässliche Voraussetzung.

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DER AUTOR



Dr. Bernhard Löhri,
(* 1953) absolvierte die Wirtschaftsuni Wien. Die beruflichen Stationen konfrontierten ihn mit Fragen der Managementaus- und -weiterbildung und der Organisationsentwicklung in Management und Politik – national und international. Letzteres im Rahmen von Missionen des Rates der EU auf dem Westbalkan. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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