China vor einem Großen Sprung zurück?

Chinas „Wirtschaftswunder“ droht zu verblassen. Sollte die KP nicht imstande sein, eine tief greifende Rezession abzuwenden, könnte dies eine schwere Legitimitätskrise auslösen. Und eine Weltwirtschaftskrise obendrein.

Turbulent geht es zu auf dem chinesischen Aktienmarkt! Nachdem sich der Shanghai Composite Index innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt hat, sorgt seit Juni eine herbe Talfahrt von knapp 40 Prozent weltweit für Nervosität unter den Anlegern. Eine Rezession der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hätte gravierende Folgen – weit über Chinas Grenzen hinaus. In Anbetracht dessen vollzogen zuletzt Rohstoffe und Aktienindizes eine massive Korrektur.

Um das „chinesische Wirtschaftswunder“, das gerade zu verblassen droht, zu verstehen, lohnt sich eine historische Reflexion. Nachdem in der politisch wie wirtschaftlich fast vollständig isolierten Volksrepublik die Zustände gegen Ende der Mao-Ära unhaltbar geworden waren, leitete die KP-Führung unter Deng Xiaoping ab 1979 schrittweise ökonomische Reformen ein, die einen rasanten Aufschwung einleiteten.

Permanentes Experimentieren

Die planwirtschaftliche Praxis hatte zu massiven sozialen und wirtschaftlichen Problemen und damit zu einer Legitimitätskrise der KP geführt. Denn die kommunistische Führung verfügte augenscheinlich nicht über das notwendige Rüstzeug, um das Land ins sozialistische Paradies zu führen – ihr Alleinführungsanspruch lag jedoch genau darin begründet.

Um dieses Legitimitätsproblem zu lösen, bediente sich Deng paradoxerweise internationaler Best Practices, die er ausgerechnet dem institutionellen Arsenal des Kapitalismus entlehnte. Dazu zählten wirtschaftliche Liberalisierungen, Stärkung von Eigentumsrechten sowie eine vorsichtige internationale Öffnung. Man begab sich auf eine Gratwanderung, die viel Fingerspitzengefühl verlangte, um die ergriffenen Maßnahmen in den Kontext einer auf fundamentalen marxistisch-leninistischen Prinzipien beruhenden praktischen Ideologie einzuordnen.

Resultat war und ist ein andauerndes Experimentieren mit institutionellen Veränderungen, die jeweils der operativen Lösung aktueller Probleme dienen und damit Teil eines einzigartigen graduellen und adaptiven Transformationsprozesses sind. So hat sich eine dynamische und in vielen Zügen marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung herausgebildet, im Rahmen derer über Jahrzehnte hinweg Kapitalaufbau und die viel beachteten BIP-Zuwächse von knapp zehn Prozent im Jahr erzielt wurden. Die Bedeutung sozialistischer Etikettierung zur ideologischen Zementierung des Führungsanspruchs der KP ging dabei kontinuierlich zurück und wurde durch eine Leistungslegitimierung ersetzt.

Dies wiederum bedeutet, dass die politische Stabilität in China mehr als andernorts davon abhängt, inwieweit die Bevölkerung (vor allem die Mittelschicht) die Wirtschaftspolitik gutheißt. Schließlich kann sich der Unmut über eine erfolglose Regierung nicht einfach in deren Abwahl artikulieren. Da seit Entfesselung der Marktkräfte auch die raffende Hand der Parteikader um sich greift – sprich: politische Macht zur privaten Abschöpfung eines guten Teils des Wohlstandszuwachses genutzt wird –, bedarf es eines außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums, um die Mittelschicht mit manierlichen Lohn- und Vermögenszuwächsen bei Laune zu halten.

Doch wie nachhaltig ist der Aufschwung? Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass nur ein geringer Teil des nominalen Wachstums als wirklicher Wohlstandszuwachs infolge der Liberalisierungen zu werten ist, wohingegen das Gros auf den exzessiven Umgang mit einer planwirtschaftlichen Residualinstitution zurückzuführen ist: einem staatlich gelenkten Kreditboom.

Rasantes Geldwachstum

Grundsätzlich unterscheidet sich China hierin wenig von westlichen Industriestaaten. Es herrscht jeweils eine auf Schulden basierende Geldordnung vor, in der Banken Giralgeld erzeugen, indem sie Kredite vergeben. Über Regulierungen (u. a. der Zinsen und Mindestreservesätze) können Zentralbanken Einfluss auf den Geldschöpfungsprozess nehmen, die Kreditexpansion forcieren und damit die Konjunktur oberflächlich beleben.

Eine dauerhafte Anwendung dieses Mittels führt zu Verzerrungen in der Kapitalstruktur und zu Fehlallokationen, da etliche unrentable Investitionsprojekte angestoßen werden. Das Fundament der realen Ersparnis wird dabei immer mehr diluiert. Laut McKinsey schnellte die Kreditmenge seit 1994 von knapp einer halben Billion US-Dollar auf mindestens 28 Billionen hoch – explosionsartig seit der Finanzkrise 2008, da man mit Brachialgewalt gegen die drohende Krise inflationierte. Damit hat sich die Lage dramatisch zugespitzt.

Das rasante Geld- bzw. Kreditmengenwachstum hat dazu geführt, dass das Land mittlerweile die höchsten Schuldenstände (öffentliche Hand, Privatpersonen und Unternehmen kumuliert) im Verhältnis zum BIP weltweit aufweist. Die Banken üben sich bereits in mehr Zurückhaltung – die Geldmenge wächst so schwach wie seit über 15 Jahren nicht mehr.

Es sind jede Menge faule Kredite im Umlauf, die in der Euphorie ewigen Wachstums ohne genaue Prüfung für unproduktive und verschwenderische Investitionen vergeben worden sind.

Brandgefährliche Deflation

Brandgefährlich ist in einem solchen Umfeld Deflation, da bei sinkenden Preisen der Schuldner den Schuldendienst womöglich nicht mehr leisten kann und so eine Kettenreaktion auslöst, bei der Kredite und damit das mit ihnen geschaffene Geld evaporieren. Zwar hätte ein solcher deflationärer Vorgang einen reinigenden Effekt, da er Fehlinvestitionen aufdecken und den wirtschaftlichen Prozess wieder in Einklang mit den tatsächlichen Ersparnissen bringen würde. Aber die Verwerfungen der damit einhergehenden Rezession würde kaum eine Regierung verkraften. Folglich ist man versucht, Deflation um jeden Preis zu vermeiden.

Mit welchen reflationären Maßnahmen wird die Chinesische Volksbank als nächstes aufwarten? Fest steht: Sollten die KP und ihre institutionellen Ausleger nicht imstande sein, eine tief greifende Rezession abzuwenden, könnte dies eine schwere Legitimitätskrise auslösen. Und eine Weltwirtschaftskrise obendrein. Den Kern dieses ernsten Problems bildet das inflationistische, staatliche FIAT-Geldsystem. Nur selten wird dies als wesentlicher Mitverursacher von den diversen Wirtschaftskrisen erkannt. Und praktisch nie wird dieses System im öffentlichen Diskurs infrage gestellt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTOREN


Mag. Roland-Peter Stöferle (*1980 in Wien) studierte Betriebswirtschaftslehre und Finanzwirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie in den USA. War zunächst Mitarbeiter der Raiffeisen Zentralbank, danach als Analyst bei der Erste Group. Derzeit Mitglied der Geschäftsführung der Incrementum AG mit Sitz in Liechtenstein.

Mark Valek (*1980 in Mödling) studierte Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuni Wien. Arbeitete in verschiedenen Positionen für die Raiffeisen Zentralbank. Seit 2013 Partner der Incrementum AG; Lektor am Institut für Wertewirtschaft in Wien und Referent an der Wiener Börse Akademie. Koautor des Ratgebers „Österreichische Schule für Anleger“. [ Fotos: Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2015)

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