Zwischen Überengagement und Selbstbeschränkung

US-Außenpolitik schwankt zwischen zwei Extremen. Es ist höchste Zeit, die Debatte über grundlegende Fragen zu beginnen.

Als US-Präsident Barack Obama kürzlich vor der UNO über den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat sprach, beschwerten sich viele seiner Kritiker, er setze zu sehr auf Diplomatie und zu wenig auf die Anwendung von Gewalt. Es wurden Vergleiche mit der Militärintervention des russischen Präsidenten, Wladimir Putin, in Syrien angestellt, und in der Tempo aufnehmenden Kampagne um die US-Präsidentschaftswahl warfen einige republikanische Kandidaten Obama Isolationismus vor.

Aber solche Anschuldigungen gehören zur Wahlkampfrhetorik, sie halten einer seriösen politischen Analyse nicht stand. Besser ist es, die aktuelle Stimmung als Teil der Schwingung eines politischen Pendels zu sehen, das sich zwischen einer maximalistischen und einer selbstbeschränkenden Politik bewegt. Eine Politik der Selbstbeschränkung aber ist kein Isolationismus, sondern eine Anpassung an strategische Ziele und Mittel. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde diese Art Politik bereits von Präsidenten wie Dwight Eisenhower, Richard Nixon und Jimmy Carter betrieben, nun ist Obama an der Reihe. Kein objektiver Historiker würde diese Männer als Isolationisten bezeichnen.

Drei Fragen an die Politiker

Historiker haben glaubhafte Belege dafür, dass Perioden eines maximalistischen Überengagements der Stellung der USA in der Welt mehr geschadet haben als Perioden der Selbstbeschränkung. Die politische Reaktion auf Woodrow Wilsons globalen Idealismus führte zum intensiven Isolationismus, der die Reaktion der USA auf Hitlers Aggressionspolitik verzögerte. Die Eskalation des Krieges in Vietnam unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon Johnson hatte die nach innen gewandte Ausrichtung der 1970er-Jahre zur Folge. Und der Grund für die aktuelle Zurückhaltung Obamas ist George W. Bushs törichte Invasion im Irak.

Sollte diese Stimmung in der Präsidentschaftskampagne von 2016 zum Ausdruck kommen, wie anhand früher Wahlkämpfe zu vermuten ist, müssen die USA die falsche Debatte über Isolationismus beenden und sich stattdessen drei grundlegende Fragen zur künftigen Außenpolitik des Landes stellen: Wie viel? Wie interventionistisch? Wie multilateral?

Bei der ersten Frage geht es darum, wie viel Geld die Vereinigten Staaten für Verteidigung und Außenpolitik auszugeben bereit sind. Obwohl argumentiert wird, das Land habe keine andere Wahl, als seine Ausgaben in diesen Bereichen zu kürzen, ist dies bisher nicht geschehen.

Als Anteil am Bruttoinlandsprodukt betrachtet geben die USA heute weniger als die Hälfte für Äußeres und Sicherheit als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges aus – in der Zeit der Konsolidierung der amerikanischen Führungsmacht in der Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Problem ist nicht „Waffen gegen Butter“, sondern „Waffen gegen Butter gegen Steuern“. Ohne die Bereitschaft, die Einnahmen zu erhöhen, sind die Verteidigungsausgaben in einem Nullsummenspiel mit wichtigen Investitionen in Bereiche wie Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung gefangen – die alle für die interne Stärke und die weltweite Position der USA entscheidend sind.

Die zweite Frage lautet, wie und auf welche Weise sich das Land in die internen Angelegenheiten anderer Staaten einmischen sollte. Obama hat erklärt, die USA sollten nötigenfalls auch unilateral auf ihre militärische Macht zurückgreifen, wenn ihre Sicherheit oder die ihrer Verbündeten bedroht seien. Ist dies nicht der Fall, wird das Land aber aus Gewissensgründen zum Handeln getrieben – vielleicht gegen einen Diktator, der die eigenen Bürger abschlachtet –, sollten die USA nicht allein eingreifen und nur dann Gewalt anwenden, wenn die Aussichten auf Erfolg groß sind.

Invasionen vermeiden

Dies sind vernünftige Prinzipien; aber wo liegen die Grenzen? Das Problem ist nicht neu. Vor fast zwei Jahrhunderten, als der sechste US-Präsident, John Quincy Adams, auf innenpolitische Forderungen nach einem Eingreifen in den griechischen Unabhängigkeitskrieg reagieren musste, tätigte er die berühmte Äußerung, die USA gingen „nicht ins Ausland, um dort Monster zu suchen, die sie zerstören können“.

Aber was ist, wenn Duldsamkeit gegenüber einem Bürgerkrieg wie jenem in Syrien dazu führt, dass eine terroristische Gruppe wie der Islamische Staat eine feste Operationsbasis bekommt?

Die USA sollten Invasionen und Besatzungen vermeiden. In einer Zeit des Nationalismus wird eine Intervention in einem fremden Land mit großer Wahrscheinlichkeit auf Widerstand stoßen. Aber was kann stattdessen getan werden? Reicht die Beherrschung des Luftraums und die Ausbildung ausländischer Kämpfer aus? Vor allem im Nahen Osten, wo Revolutionen oft eine ganze Generation hindurch anhalten, wird eine kluge Kombination aus harter und weicher Gewalt schwer möglich sein.

US-Kongress als Bremsklotz

Aktuelle Reden der US-Präsidentschaftskandidaten zeigen, dass die Debatte über die beiden ersten Fragen bereits begonnen hat. Aber die dritte Frage wird in den USA riskanterweise ignoriert: Wie kann Amerika zur Bearbeitung internationaler Fragen Institutionen schaffen, Netzwerke herstellen und Maßnahmen ergreifen?

Politische Führung durch das mächtigste Land der Welt ist für globale Problemlösungen entscheidend. Leider wird dies durch den innenpolitischen Hickhack in den USA oft blockiert. Beispielsweise ist der US-Senat trotz großen nationalen Interesses daran gescheitert, die Seerechtskonvention der UNO zu ratifizieren. Die USA brauchten diese Konvention aber, um ihre Position bei der Lösung von Territorialstreitigkeiten wie im Südchinesischen Meer zu stärken.

Ebenso scheiterte der Kongress daran, die Verpflichtung der USA zur Unterstützung der Umverteilung der Stimmrechte innerhalb des Internationalen Währungsfonds zugunsten der Entwicklungs- und Schwellenländer einzulösen, obwohl dies leicht möglich gewesen wäre. Dies bereitete China den Weg zur Gründung seiner Asiatischen Entwicklungsbank für Infrastruktur (ein Prozess, den die USA ungeschickterweise zu blockieren versuchten, was ihrem Ruf sehr geschadet hat). Und dann ist da noch der starke Widerstand im Kongress, im Vorfeld der UNO-Klimawandelkonferenz im Dezember in Paris, wo Grenzen für den Kohlendioxidausstoß fixiert werden sollen.

Einzigartig und arrogant

Wie viel für Außenpolitik ausgegeben wird und wie mit zukünftigen Krisen umgegangen wird, sind wichtige Fragen. Aber ebenso sollten sich die USA Gedanken darüber machen, dass das Bewusstsein ihrer Einzigartigkeit zu Arroganz und Überlegenheitsgefühlen degeneriert. Wie können die USA weiterhin eine Führungsrolle in der Welt spielen, wenn andere Staaten ständig die Blockade internationaler Zusammenarbeit durch den Kongress wahrnehmen? Diese Debatte muss erst noch beginnen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

Copyright: Project Syndicate

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Joseph S. Nye (geboren 1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–95).Sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ Zuletzt war er Kovorsitzender einer Diskussionsrunde
der Aspen Strategy Group zum Thema „Islamischer Staat“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.