Wozu dient Österreich heute die Neutralität?

Der gerade begangene 60. Geburtstag des Neutralitätsgesetzes gibt Anlass, sich kritisch mit Genese, Inhalt und nostalgischen Mythen auseinanderzusetzen. Klar ist: Neutralität war nie eine Sicherheitsgarantie für das Land.

Aus freien Stücken“ hat Österreich 1955 seine immerwährende Neutralität erklärt. So steht es im Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober. Tatsächlich hat niemand Österreich zur Neutralität gezwungen. Und es gab auch bereits seit dem Ersten Weltkrieg österreichische Neutralitätsideen. Ziel war, sich nach dem Muster der Schweiz aus der großen Politik herauszuhalten, die eigene Unabhängigkeit und Integrität zu wahren und sich nur noch der Mehrung des Friedens und Wohlstands zu widmen.

Gleichzeitig war die Neutralität bekanntlich der Preis für die sowjetische Zustimmung zum Staatsvertrag. Damit griff der Kreml auf ein klassisches Instrument des Imperialismus zurück: Wenn keine der interessierten Großmächte ein Territorium zur Gänze kontrollieren konnte, man es nicht teilen und einen Krieg vermeiden wollte, wurde es „neutralisiert“. Das betraf nach 1945 etwa Österreich und Finnland.

Warum die Sowjets abzogen

Entscheidend für den Moskauer Entschluss, nach zehn Jahren Blockade endlich einem Abzug aus Österreich zuzustimmen, war dreierlei: Erstens reduzierte der neu gegründete Warschauer Pakt die strategische Bedeutung Österreichs für die sowjetische Kontrolle Osteuropas. Zweitens erhöhte der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Nato in Moskau den Druck, einen ähnlichen Schritt Österreichs zu verhindern. Das ließ sich am besten durch eine Neutralisierung Österreichs erreichen, die nicht ohne Staatsvertrag zu haben war. Drittens wollte Moskau die Neutralität Österreichs verwenden, um andere westliche Staaten aus der Nato zu lösen.

Dennoch einigte man sich klugerweise darauf, dass Österreich seine Neutralität „aus freien Stücken“ erkläre. Die Westmächte und Österreich hatten diese Formel gefordert, um äußere Einmischungen in die Interpretation der Neutralität auszuschließen. Sie fürchteten nicht ohne Grund, der Kreml könnte sonst Wien vorschreiben, was „neutral“ sei.

Aber auch Moskau war aus Prestigegründen an einer „freiwilligen“ Neutralität interessiert. Der „Freiwilligkeit“ verdanken wir auch den Umstand, dass Österreich die Neutralität laut heutiger Lehre widerrufen kann, ohne jemanden anderen zu fragen.

Davon war man nicht immer überzeugt. Namentlich in den 1960er-Jahren erlebte die Neutralitätauslegung eine Aufblähung der Pflichten zulasten der Handlungsfreiheit Österreichs. Dabei spielten die sowjetischen Militärinterventionen in Österreichs unmittelbarer Nachbarschaft – 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei –, aber auch das Bekanntwerden der Schweizer Neutralitätsdoktrin eine Rolle.

Wechselnde Interpretationen

Ferner gab es wiederholt sowjetische Zwischenrufe, die österreichische Neutralitätspolitik an Moskauer Vorstellungen anzupassen. Dies betraf einen ganzen Katalog angeblicher Pflichten, etwa den „Kampf“ gegen die Nato und die EWG, wirtschaftliche Äquidistanz, die Anerkennung der DDR oder das Unterlassen jeglicher Embargos gegen den Ostblock.

Am österreichischen Verständnis ging das nicht spurlos vorüber. Hatte man die Neutralität 1955 als bloße Nichtteilnahme an Verteidigungsbündnissen und Verbot ausländischer Militärbasen definiert, sprach man nun vermehrt von den „Vorwirkungen“ der Neutralität und nahm vom Ziel eines Beitritts zur Montanunion Abstand. Nach sowjetischen Protesten gegen die ORF-Berichterstattung 1968 versuchte die Bundesregierung, den Medien einen „Maulkorb“ zu verpassen. Das Bundesheer durfte nicht in Grenznähe aufziehen, obwohl sowjetische Flugzeuge über Österreich kreisten.

Erst nach dem Kurswechsel unter Gorbatschow und dem Ende des Kalten Krieges begann Österreich, seine Neutralität wieder „auf den harten Kern“ zu reduzieren. Die von Franz Cede so genannte Avocado-Doktrin war geboren: Neutralität im Kriegsfall, kein Bündnis, keine Militärbasen.

Mittel zum Zweck

Darauf baut auch die österreichische Selbstdefinition nach dem EU-Beitritt auf, „solidarisch in Europa, neutral außerhalb Europas“ zu sein. Ähnlich verhielten sich auch Schweden und Finnland. Die neue Positionierung ermöglicht Beistand gegenüber anderen EU-Staaten, Teilnahme in der Nato-Partnerschaft für den Frieden und an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Da die EU zu immer mehr außenpolitischen Fragen eine gemeinsame Politik anstrebt, nimmt das Anwendungsfeld von Neutralität ab. Die Avocado wird zur Artischocke.

Solidarität ist ein Grundprinzip der Staatengemeinschaft; ohne sie gäbe es keine EU, aber auch keine UNO. Sie steht in einem Spannungsfeld zur Neutralität. Eine unsolidarische Haltung gegenüber anderen EU-Staaten würde die Sicherheit Österreichs reduzieren. Da es Aufgabe des österreichischen Staates ist, seine Sicherheit so gut wie möglich zu schützen, stellt die heutige Doktrin einen Kompromiss dar: zwischen dem österreichischen Sicherheitsinteresse und der Anhänglichkeit an die Neutralität.

Manche übersehen ja gern, dass auch die Neutralität Österreich verpflichtet, alles zu tun, um das eigene Territorium zu verteidigen beziehungsweise potenzielle Angreifer abzuschrecken – eine Verpflichtung, in die Österreich militärisch stets nur das absolute Minimum investiert hat.

Neutralität war Mittel zum Zweck, um 1955 die volle Souveränität zu erlangen. Sie war aber nie eine Sicherheitsgarantie. Dass Bündnisverzicht allein keinen Schutz vor fremden Angriffen darstellt, beweisen etwa die Überfälle auf das neutrale Belgien 1914 und 1940, die Niederlande 1940 oder die Ukraine 2014.

Neutralität bot keinen Schutz

Auch Österreich wäre, wie Warschauer-Pakt-Planungen aus dem Kalten Krieg zeigen, von einem Atomangriff nicht verschont worden. Das Land wurde somit nicht durch seine Neutralität geschützt, sondern durch die gegenseitige Abschreckung der Militärbündnisse.

Mit Ende des Kalten Krieges hat die Neutralität in Europa ihre außen- und sicherheitspolitische Bedeutung verloren. Die Politik hat dem durch die Änderung der Neutralitätsinterpretation Rechnung getragen – nicht aber jene Teile der Bevölkerung, die nostalgisch Mythen anhängen und Neutralität mit Wohlstand und Sicherheit assoziieren. Dabei war der Wohlstand eine Folge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, des Marshallplans, der westeuropäischen Integration und des eigenen Fleißes.

Die Uminterpretation der Neutralität von einer außenpolitischen Strategie in ein Identitätsmerkmal betrifft nicht nur Österreich, sondern viele neutrale Staaten. Sie mag im Zeitalter der Globalisierung und Desorientierung nicht unwichtig für die Identitätspflege sein. Sie birgt aber die Gefahr, die eigene Sicherheit und Handlungsfähigkeit der Affirmation nationaler Symbole zu opfern.

Hier wären ungeschminkte Worte dringend erforderlich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor



Doz. Dr. Wolfgang Mueller
(geboren 1970) ist stv. Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Privatdozent an der Universität Wien. Er lehrt und forscht über die Geschichte der internationalen Beziehungen, Russlands und Österreichs und arbeitet an einem Buch über Staatsvertrag und Neutralität. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2015)

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