Der alte und der neue Kalte Krieg in Europa

Vor 25 Jahren wurde in der französischen Hauptstadt feierlich die „Charta von Paris für ein neues Europa“ unterzeichnet. Von der damaligen Aufbruchsstimmung ist nichts geblieben. Dafür dominiert wieder das Gut-Böse-Denken.

Der Begriff „Cold War“ stammt vom US-Präsidentschaftsberater und Rüstungsexperten Bernard Baruch sowie dem Journalisten Walter Lippmann. Er bezeichnete damit den Gegensatz zwischen den USA und der UdSSR, ein Denken in „Blöcken“ und Einflusssphären, das sich durch Auf- und Wettrüsten, Druck durch Diplomatie und Politik, Wirtschaftsembargos, Geheimdienstaktivitäten, ideologische Infiltration, Kriegsdrohungen, Militärinterventionen und Propaganda äußerte. Hinzu kamen heiße oder auch Stellvertreterkriege in fernen Regionen (Indochina 1946–54, Korea 1950–53, Vietnam 1959–75).

Die Anfänge werden mit dem Zerwürfnis der zerfallenden Anti-Hitler-Koalition während des Zweiten Weltkriegs oder erst nach Kriegsende mit den kommunistischen Machtübernahmen und der sowjetischen Hegemonie in Mittel- und Osteuropa 1946/47–1949 datiert. Dem gegenüber standen das amerikanische Atomwaffenmonopol 1945–1949 und der Marshallplan 1948–1952, verbunden mit „Eindämmung“ des Kommunismus durch wirtschaftliche und militärische Hilfeleistungen für westeuropäische Staaten.

Offizielles Kriegsende in Paris

Das Ende des Kalten Krieges wird mit dem Zerfall der UdSSR und ihres Satellitensystems 1989–1991 angenommen. Mit Unterzeichnung des INF-Vertrags 1987 hatte es begonnen, als Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern samt Startgeräten und Infrastruktur abgebaut wurden.

Die Nato beschloss auf dem Londoner Gipfel im Juli 1990, den Warschauer Pakt nicht mehr als Gegner zu betrachten, und bekundete Kooperationsbereitschaft. Am 19. November 1990 verkündeten beide Militärbündnisse wechselseitigen Gewaltverzicht. Zwei Tage später folgte die „Charta von Paris für ein neues Europa“, die den Kalten Krieg auf dem Kontinent offiziell für beendet erklärte.

Seine Kennzeichen waren wechselseitige Fehlwahrnehmungen, Übertreibungen und Überschätzungen gegnerischer Potenziale sowie Ängste vor einem direkten militärischen Zusammenstoß und dem Vernichtungspotenzial der Nuklearwaffen. Das Denken in Ost-West-Gegensätzen hatte sich fest in die Gehirne eingeprägt. Und nun sollte das alles aus und vorbei sein? Der Warschauer Pakt beschloss zwar 1991 seine Selbstauflösung, und die Nato lief mangels eines Feindbildes Gefahr, Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden.

Das „Ende der Geschichte“ mit dem weltweiten Siegeszug der liberal-westlichen Demokratie (Francis Fukuyama) zu verkünden, war einer euphorischen Aufbruchstimmung geschuldet. Einerseits folgte ein globalisiertes Denken der Freiheit, andererseits aber auch eine Emanzipation alter Nationalismen und eine Spirale der Gewalt mit dem blutigen Zerfall Jugoslawiens, den Kriegen in Liberia und Somalia sowie dem Jihad Osama bin Ladens, der nach seinem Kampf gegen die Sowjetbesatzung in Afghanistan eine neue antiamerikanische Strategie entwickelte.

Neue Bedrohungen

Der Islamische Staat – Ergebnis verfehlter Interventionspolitik im Irak – verkörpert inzwischen die radikalisierte Variante von al Qaida. Seit 1989 sind also neue Bedrohungen und vermehrt internationale Risken entstanden. Während sich der Osten Europas öffnete und die Demokratie Einzug hielt, erlebte China nur einen Monat den Traum des Wortes „Freiheit“. Das Ende des alten Kalten Krieges galt nur für Europa. Der Westen ignorierte nach dem gewonnenen Ringen mit dem Kommunismus die Sicherheitsinteressen Russlands, was einen neuen Kalten Krieg zulasten Europas erzeugte.

Vergleicht man die Ost-West-Verhältnisse vor 1989 mit jenen von 2015, so ähnelt sich manches, doch sind massive Veränderungen unübersehbar: Gab es vor 1989 zwei „Blöcke“ mit China als Regionalmacht, so existiert heute ein multipolares System mit China als Hegemon in Ostasien und neuen Atommächten. Bestanden früher zwei regionale Militärallianzen (Nato, Warschauer Pakt), so heute mit dem Nordatlantikpakt nur noch eines mit „Out of area“-Einsatzbereitschaft und globaler Interventionsfähigkeit, gleichwohl sich Russland die atomare Erstschlagqualität bewahrt hat.

Russlands gefühlte Defensive

Standen einander noch in den 1980er-Jahren die Europäischen Gemeinschaften und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW = Comecon) als zwei Wirtschaftsblöcke gegenüber, steht heute eine von zwölf auf 28 Mitglieder angewachsene EU einer weit loseren „Eurasischen Union“ gegenüber, die mehr russischem Wunschdenken entspricht, als wirksame realpolitische Alternative zu sein.

Existierte im Zeichen der Ost-West-Konfrontation eine zentralistische Kommando- und Planwirtschaft im Osten neben einer privatwirtschaftlich und wettbewerbsorientierten freien Marktwirtschaft im Westen, so hat sich aus dieser Divergenz eine Diversifikation der Ökonomien auf östlicher Seite durch eine semikapitalistische staatswirtschaftliche Oligarchienwirtschaft entwickelt.

War im Zeichen des alten Kalten Krieges eine Machtbalance in Europa gegeben, so vollzog sich seit Ende der 1990er-Jahre durch die Nato- und seit 2004 durch die EU-„Osterweiterung“ eine Machtverschiebung, die Russland gefühlt in die Defensive zwang und aus seinen gewohnt traditionellen Einflusszonen zu verdrängen drohte.

Nach einer Phase der Annäherungen, Normalisierung und Abrüstung hat sich spätestens unter George W. Bush und Wladimir Putin eine neue Aufrüstungspolitik im konventionellen Bereich, aber auch auf dem Sektor der Raketenabwehrsysteme entwickelt. Wurde seit Ende der 1940er-Jahre eine einseitige westliche Embargo-Politik im Rahmen des Marshallplans durch die OEEC (Cocom-Listen) gegen die UdSSR und ihre Verbündeten praktiziert, erfolgte zuletzt eine wechselseitige Embargo-Politik durch die EU und Russland.

OSZE: Schwach und ungeeignet

Die Entspannungspolitik durch die Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975 und der KSZE-Nachfolgeprozess bewirkten einiges zur Beseitigung der Konfrontationsmuster. Heute fehlen jedoch vergleichbare Instrumentarien, so wie in den Anfängen des alten Kalten Kriegs. Die OSZE ist viel zu schwach und ungeeignet dafür.

Die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine stehen für russischen Selbstbehauptungswillen. Reformbestrebungen à la Gorbatschow sind unter Putin nicht gegeben – im Gegenteil. Die verstärkte Integration des Baltikums sowie Mittel- und Osteuropas in das westliche Wirtschaftssystem wird von Moskau als Herausforderung angesehen.

Nicht grundlos geht Russland gegen die EU-assoziierte Ukraine vor. Europa durchlebt einen neuen Kalten Krieg mit relativ gleichen Formen unter geänderten Rahmenbedingungen. Das Gut-Böse-Denken ist geblieben. Auch Historiker sollten sich nicht frei von der Gefahr traditionell einseitiger Parteinahmen wähnen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Michael Gehler
(* 1962 in Innsbruck) studierte Geschichte und Germanistik an der Uni Innsbruck, habilitierte sich 1999 und war dort a.o. Professor am Institut für Zeitgeschichte. Seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Uni Hildesheim. Seit 2013 Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.