Die Zeit des Horrors ist eine Zeit angstvoller Wissbegier

Erregungskurven. Die Wiener Wahl ist als Sensationsthema rasch abgelöst worden. Leider wird der Terroralarm zum ständigen Begleiter.

In bedrohlichen Perioden bieten Fernsehanstalten und Zeitungen paketweise Information, die auch reichlich konsumiert wird. Sieben Sonderseiten blättert die „Presse am Sonntag“ nach der Terrorserie in Paris auf, „um das Unfassbare fassbar zu machen“. Das sei die Aufgabe der Journalisten, schreibt der Chefredakteur.

Leser widmen sich, wie die Kommunikationsforschung schon vor Längerem herausgefunden hat, dem geschriebenen Grauen nicht primär aus Sensationslust, sondern um es psychisch zu verarbeiten. Der Dank an Journalisten ist begrenzt – ihnen wird oft vorgeworfen, aus Schreckensnachrichten Kapital zu schlagen.

Am Tag der Katastrophe, Freitag, 13. November, entzieht sich die „Presse“ allerdings unfreiwillig jedem Verdacht dieser Art. Spät am Abend, als die „Presse“-Ausgabe für Westösterreich längst gedruckt und dorthin unterwegs ist, treffen in der Redaktion die ersten Meldungen aus Paris ein. 22.36 Uhr: Mindestens 18 Tote in Paris. Wenige Minuten später verdichtet sich die Nachrichtenlage zur APA-Vorrangmeldung „Schüsse und Explosionen in Paris“. Ein Redaktionsmitglied, das zur nächtlichen Stunde für den Spätdienst abgestellt ist, kann sehr einsam sein. Der Lauf des Minutenzeigers und die Deadline redaktioneller Arbeit erzeugen Stress und Hast. Was in Paris los ist, ist noch nicht mit Sicherheit erkennbar, jedenfalls längst nicht alles von dem, was in der Früh fast jedermann wissen wird.

Zudem ist die Aufmacherseite einem einzigen Thema gewidmet worden, nämlich „Was im rot-grünen Pakt steht“. Da scheint kein Platz für die aufregenden Neuigkeiten aus Frankreich. Also kommt die „Blutige Anschlagserie in Paris“ im Auslandsressort unter. „Mindestens 30 Menschen“ hätten den Tod gefunden, heißt es dem vorläufigen Stand entsprechend.

Wäre das ein Attentat in Syrien gewesen, würde eine Nachricht im Auslandsressort genügen – mediale Prioritäten sind unbarmherzig. Ereignet sich das Unheil in Paris, drängt es auf eine Spitzenmeldung auf Seite 1, denn die Tragödie der Gewalt betrifft ganz Europa. Es landet dennoch auf Seite 9. Am Morgen danach, wenn in Wiens Trafiken Zeitungen mit vergleichbaren Ansprüchen nebeneinander liegen, wirkt der „Presse“-Aufmacher „Was im rot-grünen Pakt steht“ als das, was er leider ist: deplatziert.

Auch die Systemfrage spielt dabei mit. Seit Jahren füllt die „Presse“ die Seite 1 vorzugsweise mit einem einzigen Themenschwerpunkt und unterscheidet sich dadurch von allen anderen Zeitungen. An vielen Tagen des Jahres, wenn nichts Aufregendes zu melden ist, kann dies ein Vorteil sein, sogar ein seriöser Vorteil – das Aufbauschen von Kleinigkeiten zu Sensationen wird vermieden. Im Ernstfall stellt sich aber dann doch die Frage, wie man ein gewichtiges Trumm innenpolitischer Literatur mit einem Handgriff entsperrt, um Platz für das noch wichtigere Aktuelle zu schaffen.

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Ob Terrorpanik oder geordneter Alltag – zur Seriosität gehört die Genauigkeit. Nach dem Absturz einer russischen Verkehrsmaschine über Sinai heißt es in einer Mittelleiste der „Presse am Sonntag“, „Bei fünf weiteren Unglücken kamen in den vergangenen zwei Jahren mehr als 100 Menschen ums Leben (1. 11.) Unmittelbar darunter summieren sich die Todesopfer aufgezählter Flugkatastrophen aber auf 687.

Die von Präsident Obama bekämpfte Keystone-Pipeline werde 1900 Meter lang sein (7. 11.) Von Kanada bis nach Texas scheint ein kurzer Fußweg zu führen.

Ein Beistrich an falscher Stelle, und schon hat die Asfinag eine Zeitreise in die Zukunft absolviert: „Bei einer Präsentation verkündete die Asfinag schon 2016, mit dem Bau beginnen zu wollen“ (17. 11.)

Die Bedeutung eines einzelnen Begriffes nützt sich beim saloppen journalistischen Gebrauch schnell ab. „China droht Insolvenzboom“ (13. 11.) Ein „Boom“ bezeichnet nach geltenden Regeln einen wirtschaftlichen Aufschwung oder eine Hochkonjunktur, Insolvenzen fallen nicht in diese Kategorie. Wir würden auch kaum sagen, die Arbeitslosigkeit boomt.

Falsche Wortstellungen sind tückisch. Bei einem überraschenden Vorstoß der Koalitionsmehrheit im Bundesrat seien „alle Hürden damit nicht genommen“ (29. 10.). Somit wäre keine Hürde genommen. Gemeint ist: „Nicht alle Hürden sind damit genommen.“

Die SPD wolle sich gegen Transitzonen für Flüchtlinge verwehren (3. 11.). Verwahren wollte sie sich dagegen.

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Dreimal journalistische Kunst des Verschwindenlassens:
Von etwas Erwartetem: In mehreren Artikeln bereitet der Sport die Leser auf das entscheidende Rugby-Spiel um den Weltmeistertitel in London vor. Am 31. Oktober ist es soweit, Neuseeland wird zum dritten Mal Weltmeister. Aber die „Presse“ verschweigt es bis heute.
Eines Denkansatzes: „Die Voest hatte den Auftrag abgelehnt – zu kompliziert sei die Herstellung des von Architekt Wolf D. Prix entworfenen Denkmals“ (3. 11.). So lautet der erste Satz über ein geplantes Alban-Berg-Denkmal. Demnächst wird es enthüllt werden. Wer es hergestellt hat, erfährt man in dem Artikel nicht. Die Voest war es jedenfalls nicht.
Eines Buchstabens im Titel: „Großbaustelle Europa – wo der Rat aheim ist“ (31. 10.). Das d von „daheim“ schluckt der Zeitungsfalz.

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In den Sophiensälen zeichnet die „Presse“ nach wochenlanger sorgfältiger Auswahl zum zwölften Mal die „Österreicher des Jahres“ aus. Das einzige Foto auf Seite 1 zeigt den Bundespräsidenten sowie den Chefredakteur und die beiden Geschäftsführer der „Presse“ (24. 9.). Um wen ging es bei der Auszeichnungs-Gala eigentlich?

Es hat lange gedauert, bis Zeitungen davon abließen, Pensionisten durch Abbildung betagter Menschen zu illustrieren, die auf Bankerln sitzen. Das tun sie hauptsächlich in Klischeevorstellungen. In der „Presse“ geht es diesmal um „Ältere Arbeitnehmer als Verlierer“ (3. 11.). In der Grafik liegt einer dieser Älteren rücklings auf einer Bank. Ich bezweifle, dass das die bevorzugte Position jener ist, die vorzeitig aus der beruflichen Aktivität gedrängt wurden.

Der Life Ball sei „international renommiert wie kaum eine Veranstaltung in Österreich“, schreibt die Zeitung und macht sich spürbar Sorgen wegen der vom Life-Ball-Erfinder Gery Keszler verordneten einjährigen Festpause (3. 11.). Offenbar ist der nach „mehr Tiefe“ der Veranstaltung strebende Keszler einer der wenigen, denen schwant, dass der glamouröse Event-Trubel kein größeres oder besseres Publikum beeindrucken wird als das, das er schon hat.

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Die Sprache lebt. Immer wieder freue ich mich über die Geburt eines neuen Wortes, jedenfalls eines Wortes, das ich noch nirgends gelesen habe, aber dennoch sofort verstehe. Diesmal ist es der „Widerborst“. CSU-Chef Horst Seehofer ist laut „Presse“ ein solcher (4. 11.). Er sei der bayerische Widerborst der Kanzlerin Merkel.

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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