Sachzwänge und deutsche Tugendprotzerei

Die deutsche Kanzlerin Merkel sei mit ihrer Flüchtlingspolitik in die Rolle des moralischen Zuchtmeisters geschlüpft, kritisieren britische Autoren. Aber diese Politik wird auch von durchaus pragmatischen Erwägungen bestimmt.

Die politische Diskussion in Europa ist um einen Ausdruck reicher. Mit Tugendprahlerei oder -protzerei definieren Kolumnisten britischer Qualitätsmedien im Speziellen die Politik der deutschen Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage. Mit ihrer Parole „Wir schaffen das“ und der völligen Ausrichtung ihrer Politik auf die Prinzipien des Idealismus und einer Fantasterei, genährt aus „lemminghafter“ politischer Korrektheit, gefährde Deutschland die brüchige Einheit der EU endgültig.

Mit der Außerkraftsetzung der Schengen- und Dublin-Mechanismen habe Deutschland im Geist des Unilateralismus Fakten geschaffen und sich die Rolle des moralischen Zuchtmeisters angemaßt.

Tatsächlich schlingert das heutige Europa in der Flüchtlingspolitik einerseits zwischen einem politischen Konzept der pragmatischen Problembewältigung mit Orientierung am Rechtsstaat; andererseits einem ideologisch geleiteten Zugang, der die Menschenrechte über alles erhebt und den Rechtsstaat dem unterordnet.

Die Aufgaben des Staates

Zentrale Tugenden wie Verantwortung für die Nation, Bekenntnis zu externer und interner Sicherheit, Herrschaft des Gesetzes werden in ihrem Wert als gestrig relativiert. Oskar Lafontaine und Joschka Fischer sprachen gar von Sekundärtugenden, die ausreichend seien, ein Konzentrationslager zu leiten.

Die Bundesrepublik Deutschland scheint ein besonderer Nährboden für dieses Denken des Sündenstolzes zu sein, das nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Israel oder der Schweiz eher besorgtes Kopfschütteln auslöst. Denn es blendet sicherheitspolitische, geopolitische und strategische Gesichtspunkte weitgehend aus.

Es fehlt auch die demokratische Legitimation, die Interessen der Nation und ihrer Menschen alternativlos aufzugeben. Das ist die Überzeugung vieler, die in der Folge dieser „korrekten Politik“ ihre Unterstützung versagen.

Es ist Vorrecht unserer Gesellschaften zu helfen – und das tut die Zivilgesellschaft in überzeugender Weise und das tun die Steuerzahler über die öffentlichen Institutionen. Es ist aber auch vornehmliche Aufgabe der Politik, für strategisches Handeln des Staates zu sorgen. Eine durchaus funktionierende Zivilgesellschaft verdient einen leistungsfähigen öffentlichen Sektor. Zurufe des österreichischen Verfassungsgerichtshofpräsidenten, Gerhard Holzinger, der Staat möge seinen Aufgaben im Sicherheitsbereich nachkommen, sind in ihrer Brisanz zu erkennen.

Die politische Strategie der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, schafft den Rahmen für Österreichs Strategie und definiert die gesamteuropäische zentral mit. Die Frage, was Frau Merkel bewegt, führt selbstredend auch in die Konzepte praktizierter Christdemokratie in Europa.

Europas Unsicherheit

Die CDU unter Angela Merkel ist eine betont protestantische Partei geworden. Das liegt nicht nur an der Pastorentochter aus der Uckermark, es ist dies auch eine CDU, die den lutherischen Pastor Joachim Gauck in das Bundespräsidentenamt brachte. Der früher dominierende rheinische Katholizismus in der CDU hingegen ist bereits historische Reminiszenz. Die CSU hingegen repräsentiert eine maßgeblich katholisch verfasste christliche Volkspartei mit klarer Erkennbarkeit katholisch-bayerischer Politikelemente etwa in der Kulturpolitik.

Vermischt sich im politischen Zugang Merkels gar die protestantisch gebotene Gewissenserforschung mit dem kollektiven deutschen Schuldbegriff, um mittels demonstrativer Willkommenskultur klare Distanz zu jeglichem Antimigrantentum zu schaffen?

Christopher Caldwell, ein US-amerikanischer Migrationsforscher, sieht die Unsicherheit Europas im Umgang mit der Migrationsfrage in der faschistisch/nationalsozialistischen Vergangenheit speziell von Deutschland und Österreich und in der kolonialen Vergangenheit der europäischen Kolonialstaaten begründet.

Letztere scheinen die Hypothek jedoch souverän abgeschüttelt zu haben. Demgegenüber scheint sich Deutschland offenbar einer Tugendprahlerei hinzugeben, was aber wiederum als extrem deutsch wahrgenommen wird – mit Sendungsbewusstsein, Zuchtmeistertum und moralischem Imperialismus, wie der ungarische Protestant Viktor Orbán meint.

Unklar sind die Signale der europäischen Sozialdemokratie zur Flüchtlingsfrage. Das kann nicht überraschen, hat doch die Sozialdemokratie zu den Fragen transnational und transkulturell konfigurierter Gesellschaften keine umfassenden Antworten mehr.

„Toll, ein anderer macht's“

Während die Christdemokratie paradoxerweise in unseren säkularen Gesellschaften mit protestantischem Führungspersonal ihre Position verbessert, steht die Sozialdemokratie mit ihren Personen und Programmen auf verlorenem Posten. Über mantraartige Appelle zur internationalen Solidarität, die von den sozialdemokratischen Gewerkschaftsflügeln umgehend und reflexartig bis zur Unkenntlichkeit relativiert werden, sind von sozialdemokratischem Führungspersonal nur Gesprächsfloskeln à la „Team“ zu vernehmen – wobei „Team“ für „Toll, ein anderer macht's“ steht.

Österreich profiliert sich dieser Tage europaweit als Mekka sozialdemokratischer Leerworte und Schönsprechs. Die Art und Weise, wie der österreichische Bundeskanzler, Werner Faymann, sich in der Flüchtlingsfrage unter dem Rocksaum der deutschen Bundeskanzlerin unsichtbar machen möchte, löst Betroffenheit nicht nur in seiner eigenen Partei aus.

Bedarf an Arbeitskräften

Dass sich in die Politik der deutschen Kanzlerin auch pragmatische Fragen hineingeschmuggelt haben mögen, ist sehr wahrscheinlich. Das Demografiekonzept der deutschen Regierung zeigt einen großen Bedarf an Arbeitskräften für die nächsten 15 Jahre auf. Nachdem das Bestreben, nicht Geborene der vergangenen Jahrzehnte hervorzuzaubern ähnlich schwierig ist wie Tote zum Leben zu erwecken, ist Migration in der Größenordnung von etlichen Millionen ein konkretes Thema für die Politik.

Es ist eine offene Frage, ob die Flüchtlinge jene Potenziale mitbringen, die sie für diese Aufgabe befähigen. Das deutsche Arbeitskräftepotenzial von derzeit 44 Millionen verringert sich demografie-bedingt in den nächsten 15 Jahren, muss aber zu Absicherung des Wirtschaftsstandortes wachsen.

Deutschland hat allerdings bezüglich Personalentwicklungskompetenz in Europa eine herausragende Stellung. Wenn es einer Volkswirtschaft gelingt, fremde Menschen schnell in Arbeit, Brot und damit Wertschaffung zu bringen, dann die deutsche. Eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen in Deutschland mag daher schon bald eifersüchtige Begehrlichkeiten wecken.

Da muss nicht nur Österreich schauen, wo es bleibt, fehlt doch hierzulande ein Demografiekonzept. Und mit dem Divisor 10 die deutschen Werte zu austrifizieren, ist vielleicht doch etwas wenig.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Dr. Bernhard Löhri, (* 1953) absolvierte die Wirtschafts-Uni Wien. Die beruflichen Stationen konfrontierten ihn mit Fragen der Managementaus- und -weiterbildung und der Organisationsentwicklung in Management und Politik – national und international. Letzteres im Rahmen von Missionen des Rates der EU auf dem Westbalkan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.