Bringt ausgerechnet der IS die politische Union voran?

Anstatt weiter den Ausbau einer Fiskalunion zu forcieren, sollte sich die EU endlich um die politische Union bemühen.

Während der Wirtschafts-, Finanzkrise haben die nördlichen Euroländer die südlichen gerettet, indem sie die unbegrenzten Beistandsversprechen der Europäischen Zentralbank trugen und außerdem noch riesige Rettungsschirme finanzierten. Doch als die Bundesrepublik Deutschland ein Quotensystem für die Flüchtlinge verlangte, ließ man sie auflaufen.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wird gelobt, wenn sie ihre Geldbörse aufmacht. Doch wird es einsam um sie, sobald sie selbst von den EU-Partnern Solidarität einfordert. Und nun, da Frankreich nach den Terrorattacken vom 13. November dem Islamischen Staat den Krieg erklärt hat, zucken die anderen EU-Ländern nur mit den Schultern. Sie machen die nötigen Lippenbekenntnisse gegenüber Frankreich. Doch insgeheim hoffen sie alle, dass sie der Jihad verschonen wird.

Währenddessen kommen hunderttausende Moslems ohne Kontrolle und Registrierung in die EU, vor allem nach Deutschland.

Gemeinsame Armee fehlt

Diese Ereignisse zeigen, dass Europa dringend eine politische Union braucht. Der Kontinent hat mittlerweile erhebliche Schritte in Richtung einer Fiskalunion getan, doch ist er Lichtjahre von einer politischen Union entfernt. Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung des gemeinsamen Marktes und ein Vierteljahrhundert nach der Einführung einer gemeinsamen Währung gibt es immer noch keinen gemeinsamen Außenminister, keine gemeinsame Außenpolitik, keine einheitliche Immigrationspolitik, kein gemeinsames Asylrecht und keine gemeinsame Polizei.

Insbesondere aber gibt es noch immer keine gemeinsame Armee. Trotz all der heiligen Schwüre der Vereinigungspolitiker gibt es immer noch 28 Armeen mit 28 separaten Leitungen, die durch die Nato nur locker miteinander verbunden sind.

Einige, wie Frankreichs Staatschef François Hollande oder der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, meinen, Europa müsse sich nun noch mehr der Fiskalunion annähern. Man benötige eine gemeinsame Absicherung für die Sparkonten, ein gemeinsames Budget, gemeinsame Schuldverschreibungen, mehr Versicherung gegen finanzielle Risken und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung.

Aber Hollande und Juncker liegen falsch, da diese Maßnahmen die falsche Struktur der relativen Preise zementiert, die die Euro-Kreditblase hervorbrachte, und damit die Arbeitslosigkeit in Frankreich und Südeuropa erhält. Den Fehler, den man mit der Einführung des Euro gemacht hat, würde man nur noch vergrößern.

Die Maßnahmen, die Hollande und Juncker empfehlen, würden Europa in einen Schuldensumpf führen, weil sie die Zinsunterschiede weiter verringern würden, den Kapitalmarkt seiner Kontrollfunktion berauben und Blasen bilden würden. Europa würde die Fehler wiederholen, die die Vereinigten Staaten nach ihrer Gründung gemacht hatten, als sie in mehreren Runden die Schulden der Einzelstaaten zu Bundesschulden machten und so eine gefährliche Kreditblase hervorriefen, der in den Jahren 1835 bis 1842 neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien zum Opfer fielen, indem sie in Konkurs gingen. Das bereitete den Boden für den amerikanischen Bürgerkrieg.

Das sind nicht die einzigen Nachteile, die ein weiterer Ausbau der Fiskalunion bringen würde. Fortschritte auf dem Weg in Richtung Fiskalunion würden paradoxerweise den Aufbau einer politischen Union nur noch unwahrscheinlicher machen. Aus einem einzigen, aber überaus wichtigen Grund: Frankreich, das sich der Notwendigkeit enthoben sieht, seine Force de frappe als Tauschobjekt einzusetzen.

Frankreich als Bremser

Frankreich, das unbestritten die wichtigste militärische Macht des Kontinents ist, hat bisher alle Versuche, die nationalen Armeen zusammenzulegen, abgelehnt. So hat die französische Nationalversammlung 1954 den Vertrag über die Westeuropäische Verteidigungsunion abgelehnt; später lehnte das französische Volk die europäische Verfassung ab, die einer stärkeren politischen Union den Weg geebnet hätte. Tatsächlich hat ein französischer Präsident nach dem anderem das Fernziel eines Vereinten Europas abgelehnt.

Andererseits ist Frankreich der große Profiteur einer europäischen Fiskalunion, da sein Bankensystem und seine Industrien auf Südeuropa ausgerichtet sind. So lag das Ausleihvolumen der französischen Banken zur Zeit der Lehman-Krise mit 58 Milliarden Euro beim Doppelten des deutschen, obwohl Frankreich das kleinere Land ist.

Europa muss zusammenstehen

Es ist nur allzu verständlich, dass Frankreich den gegenwärtigen, ungleichgewichtigen Entwicklungspfad der EU aufrecht erhalten möchte. Doch wenn die anderen Euroländer Frankreich in diesem Punkt nachgeben, werden sie die Chancen für eine politische Integration des Kontinents nur weiter verringern. Wenn Europa es nicht schafft, die Asymmetrien seines Entwicklungsprozesses zu überwinden, wird es schweren Schaden erleiden.

Vielleicht bringen die hässlichen Attacken der IS-Kämpfer Frankreich nun zu einem Einsehen, weil sie dem Élysée-Palast zeigen, dass selbst eine derart große militärische Macht wie Frankreich eine politische Union braucht.

Europa muss heute zusammenstehen, um Frankreich beim Kampf gegen die Terroristen und Deutschland, Österreich, Schweden, Slowenien und Ungarn bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Europa muss seine Grenzen kontrollieren, und es braucht eine gemeinsame Polizei, ein gemeinsames Asylrecht, eine gemeinsame Außenpolitik und vor allem eine gemeinsame Armee, bevor der Weg zur Fiskalunion fortgesetzt wird.

Europa sollte bei seinem Weg dem Beispiel erfolgreicher Bundesstaaten wie der Schweiz oder den Vereinigten Staaten folgen. Diese Bundesstaaten begannen als militärische Verteidigungsbündnisse und entwickelten sich erst viel später zu Fiskalunionen.

Vom Kopf auf die Füße

Es dauerte Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, bis umfangreiche gemeinsamen Budgets zustande gekommen waren und man damit begann, Einkommensrisken zu vergemeinschaften. Bis zum heutigen Tag gilt die Nicht-Beistandsregel, nach der der Bund oder die Zentralbank bedrohten Einzelstaaten oder Kantonen nicht hilft, wenn eine Pleite droht.

Es ist bereits höchst an der Zeit, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem man endlich von weiteren dubiosen Maßnahmen zur Vergemeinschaftung der Geldbörsen Abstand nimmt und sich stattdessen endlich jenen Gebieten zuwendet, bei denen Solidarität und Gemeinschaftsaktionen wirklich gefragt sind.

Copyright: Project Syndicate, 2015.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Hans-Werner Sinn (*1948 in Brake) ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Uni München. Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung sowie Berater des deutschen Wirtschaftsministeriums; Honorarprofessor an der Uni Wien. Zahlreiche Bücher, zuletzt: „Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2015)

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