Die politischen Kräfte des Landes und ihr Gewicht

Macht und Ohnmacht der Hofburg. Die Rolle des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung: eine frühzeitige Warnung an die Kandidaten.

Heute wird diese Kolumne wieder einmal ihrem Namen „Déjà-vu“ gerecht. Sie beschäftigt sich mit Erfahrungen, die die Republik mit ihren Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung gemacht hat. Freilich ist das nicht nur eine historische Fingerübung, sondern enthält eine Nutzanwendung für die Wahl des höchsten Funktionärs der Republik im kommenden Frühjahr.

Sie gilt vor allem für Alexander Van der Bellen, falls dieser habituelle politische Zauderer sich überhaupt entschließen sollte, zu kandidieren und dann vielleicht sogar gewählt wird. Die Lehren aus der Geschichte sollten natürlich auch alle anderen Kandidaten schon im eigenen Interesse beherzigen.

Im Selbstgefühl der moralischen Überlegenheit, die einen Grünen kennzeichnet, hat Van der Bellen anlässlich einer Buchvorstellung erklärt, er würde als Bundespräsident eine von der FPÖ geführte Bundesregierung nicht akzeptieren – das heißt, einen ihm vorgeschlagenen Bundeskanzler von der FPÖ nicht angeloben. Da aber das Potenzial von Parteien wie der FPÖ in Österreich mit 30 Prozent begrenzt sei, würde er ohnehin nicht in die Situation kommen: „Solange 70 Prozent der Wähler sich anders entscheiden, fühle ich mich relativ sicher.“ Später hat er diese Aussage wieder relativiert, man weiß also nicht genau, was er wirklich meint.

Van der Bellen redet aber von einer Situation, die kaum eintreten wird. Weder die SPÖ noch die ÖVP würde eine Koalition mit einem Kanzler der FPÖ eingehen. Viel eher ist der Fall einer Koalition mit der FPÖ unter einem SPÖ- (das ist wahrscheinlicher) beziehungsweise einem ÖVP-Kanzler möglich – und zwar auch dann, wenn die FPÖ die stärkste Partei geworden sein sollte. Die 30 Prozent, von denen Van der Bellen redet, reichen dazu spielend.

Die Frage, die dem grünen Veteranen daher hätte gestellt werden sollen, lautet, ob er auch eine Regierung unter Beteiligung der FPÖ nicht angeloben würde.

Der Fall ist keineswegs konstruiert oder hypothetisch. Er hat sich vor genau 16 Jahren so abgespielt, also in einer Zeit, an die sich Van der Bellen noch gut erinnert, denn er war damals Chef der grünen Partei: Nach der Nationalratswahl vom 3. Oktober 1999 bildeten die zweit- und drittstärkste Partei eine Regierung. Jede hatte 26,9 Prozent der Stimmen bei der Wahl und 52 Mandate im Nationalrat. Der Abstand zwischen der zweit– und drittstärksten Partei betrug 415 Wählerstimmen.

Den Kanzler stellte die drittstärkste Partei, nämlich die ÖVP, die Vizekanzlerin kam von der zweitstärksten Partei, der FPÖ. Die Lehre aus diesem Ereignis für Van der Bellen oder Irmgard Griss (Erwin Pröll, Rudolf Hundstorfer und Josef Moser muss man das nicht erklären) lautet: Der Bundespräsident kann eine Regierung, die eine Mehrheit im Nationalrat hinter sich hat, gar nicht verhindern, auch wenn er das wollte.

Thomas Klestils Fiasko

Diese bittere Erfahrung musste Thomas Klestil in den dramatischen Tagen Anfang des Jahres 2000 machen. Er wollte eine große Koalition erzwingen, am Schluss musste er unter für ihn demütigenden Umständen nehmen, was er bekam – und das war eben nicht die Regierung, die er sich gewünscht hatte. Er erlitt das größte Fiasko, in das sich ein Bundespräsident je manövriert hat.

Es war Heinz Fischer, der als Nationalratspräsident Thomas Klestil bei der Angelobung einen Rat auf den Weg gab, den dieser zu seinem Schaden nicht beherzigte: Die direkte Wahl durch das Volk berechtige den Bundespräsidenten nicht, sagte Fischer, „an den Gewichten, die den politischen Kräften unseres Landes auf Grund anderer Wahlen zukommen, das Geringste zu verändern“.

Als Fischer 2004 selbst Bundespräsident geworden war, rieb ihm Andreas Khol bei der Angelobung im Parlament diesen Satz genüsslich unter die Nase. Die „Gewichte“ waren damals so verteilt, dass die ÖVP mit 79 Mandaten im Nationalrat – der Koalitionspartner BZÖ hatte nur 18 – fast unumschränkt herrschte. Khol verbat sich damit jede Einmischung des Bundespräsidenten in die aktuelle Politik.

Was die Verfassung vorgibt

Seine Rolle bei der Regierungsbildung ist die bei Weitem stärkste Kompetenz des Bundespräsidenten, mit der er unmittelbaren innenpolitischen Einfluss ausüben kann. Artikel 70 des Bundesverfassungsgesetzes bestimmt lapidar:

„Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich. Die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers.“

Das ist alles, was die Verfassung an Vorschriften für einen politisch so weitreichenden Vorgang, wie es die Regierungsbildung ist, sagt. Das meiste, was in der allgemeinen Auffassung untrennbar zur Regierungsbildung gehört, steht nicht im Gesetz, sondern sind nur Konventionen, die aber kraft Gewohnheit einen „starken Verpflichtungscharakter“ haben, wie es der Verfassungsrechtler Manfried Welan formuliert hat.

Welan nennt an solchen Konventionen und Übungen:
Die Regierungsbildung findet im Anschluss an eine Nationalratswahl statt. Das steht nicht in der Verfassung. Der Bundespräsident könnte den Bundeskanzler auch zu einem anderen Zeitpunkt bestellen und entlassen. Daher ist auch entgegen landläufiger Auffassung die Amtsdauer einer Regierung nicht festgelegt.
Der Präsident beauftragt den Vorsitzenden der stärksten Partei mit der Regierungsbildung. Auch das ist nicht von der Verfassung vorgeschrieben. Noch während Klestil im Jänner 2000 den Versuch machte, eine SPÖ-Minderheitsregierung aufzustellen, waren Jörg Haider und Wolfgang Schüssel schon handelseins geworden: Sie teilten dem Bundespräsidenten dann mit, dass sie eine Regierung bilden würden.

Offene Misstrauenserklärung

Klestil musste akzeptieren, was die beiden ihm anboten, und mit steinerner Miene gelobt er den Chef der drittstärksten Partei zum Bundeskanzler an, dem er zuvor nie einen Auftrag zur Regierungsbildung erteilt hatte.
Eine Regierung muss sich nicht wie anderswo im Parlament einem Vertrauensvotum stellen, sie muss sich nur dem Nationalrat „vorstellen“. Bei dieser Gelegenheit gibt der Kanzler eine „Regierungserklärung“ ab, von der ebenfalls nichts im B-VG steht. Die Verfassungsrechtler sind sich aber darin einig, dass der Bundespräsident Einfluss auf den Inhalt der künftigen Regierungspolitik nehmen kann. Er kann dem designierten Bundeskanzler sogar Bedingungen stellen. Das ist 2000 in extremer Form geschehen.

Klestil erzwang eine Präambel zum Regierungsprogramm, in der er eine „stabile und im In- und Ausland akzeptierte Regierung“ verlangte. Das war eine offene Misstrauenserklärung gegen die FPÖ. Die Regierung musste auch noch ihre „unerschütterliche Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe der Völker Europas sind“, bekennen, Ob sich heute ein Bundespräsident noch trauen würde, dergleichen zu verlangen?

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2015)

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