„Die Presse“ holt die große Welt herein

Allgegenwärtig. Eine mobile Redaktion ist nahezu überall. Die Journalisten blicken für ihre Leser über den Tellerrand.

In meinem Beobachtungszeitraum von vier Wochen notiere ich diesmal: „Presse“-Redakteure waren in Berlin, den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Tokio, an der Elfenbeinküste, in Budapest, Saudiarabien, Bulgarien und in Beaver Creek in Colorado. Die Liste ist vermutlich lückenhaft. Ständige Korrespondenten wurden nicht mitgezählt – die sind sowieso an ihrem Standort. Ich erwähne das, weil sich die Zeitung am heutigen Tag mit Lichtblicken befasst.

Die Redaktionsmitglieder sammeln nicht bloß Eindrücke, sondern Wissen. Wenn sie später einmal eine Nachricht aus den Informationsnetzen zugespielt bekommen, aber schon einmal an dem betreffenden Ort recherchiert haben, werden sie bei der Beurteilung eines fernen Ereignisses sicherer sein. Das fahrende Journalistenleben ist selten komfortabel. Stadtrundfahrten oder Museumsbesuche werden dem Warten vor Konferenzzimmern oder einem einzig möglichen Interviewtermin geopfert, der sich ständig verschiebt. Außerdem stapelt sich daheim zusätzliche Arbeit ganz automatisch.

Ehrgeizige Redaktionen gleichen einem Taubenschlag mit offenen Türen. Zur internationalen Beweglichkeit muss die innerösterreichische Mobilität hinzugezählt werden. Spielfeld, Salzburg, Nickelsdorf, Traiskirchen und andere Orte sind durch den Flüchtlingsansturm zu zentralen Punkten eines journalistischen Pendelverkehrs geworden, mit Ausbuchtungen in die Nachbarstaaten hinein. Der Personalstand ist knapp, nicht immer wissen die Chefs und ihre Mitarbeiter, wie sie zurechtkommen.

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Wer hat in der Wiener Redaktion eigentlich noch den Überblick? Ich frage routinemäßig und sitze ratlos vor meiner in Wien pünktlich zugestellten Morgenausgabe vom 3. Dezember. In der gestrigen „Presse“ habe ich den knappen Einspalter „Südbahn für drei Wochen gesperrt“ gelesen, was für die Hauptstrecke von Wien nach Südösterreich wohl eine ernste Sache ist. Heute finde ich nichts darüber, und später auch nichts mehr – nicht einmal, dass die Strecke seit vergangenem Sonntag wieder befahrbar ist. Die ÖBB-Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit hat offenbar sehr gut gearbeitet und den Medien Positives vermittelt: Das Fernsehen brauche gar nicht ausfahren, denn im Tunnel sei es zu finster, man könne aber Passagiere interviewen, die voll des Lobes über den perfekten Schienenersatzverkehr seien.

Über das Bahnunglück erscheint fast nichts, obwohl es eines von außerordentlicher Dimension war. Zwei Güterzüge, eine Hilfslok waren beteiligt. 21 Güterzugwaggons klinkten sich aus und rollten auf der wegen ihrer prächtigen Viadukte gerühmten Ritter-von-Ghega-Steilstrecke mit bis zu 60 Stundenkilometern führerlos abwärts, und zwar mehr als einen Kilometer, 14 Waggons entgleisten und wurden samt der Hilfslok im Tunnel zerquetscht. Der Schaden beträgt mindestens fünf Millionen Euro, die Staatsanwaltschaft ermittelt.

„Die Presse“ könnte bei der ÖBB ja einmal nachfragen, ob sich nicht demnächst ein paar vollbesetzte Personenwaggons während der Auffahrt zur Passhöhe selbstständig machen und zu Tal sausen könnten. Und ob die ÖBB ein Psychologenteam bereithalte, falls einige von 57.000 Passagieren pro Woche angesichts des nahenden Berges Panikattacken erleiden. Aber die „Presse“ berichtet statt dessen ausführlich, dass die Stimme Chris Lohners auf den ÖBB-Banddurchsagen für alle Ewigkeit gespeichert sei (3. 12.). Auch das beruhigt.

Jetzt fehlt nur noch mein Hinweis, was daran ein Lichtblick ist. Antwort: dass sich die „Presse“ als einzige Zeitung seit mehr als sechs Jahren regelmäßig von einem Außenstehenden in der „Spiegelschrift“ öffentlich kritisieren lässt. Diese Courage ist ein wichtiger Anlauf zu ihrer journalistischen Vollkommenheit, also zweifellos ein Lichtblick.

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Ein Grammatikfehler im Bildtext stört den Ernst des Augenblicks: „Die österreichische Staatsspitze gedachte im Parlament den Terroropfern von Paris“ (24. 11.). Sie gedachte der Terroropfer.

Weniger zeremoniell und dennoch falsch die Titelzeile: „Die EU-Regierungen suchen nach einen Kompromiss“ (26. 11.) Entweder suchen die Regierungen einen Kompromiss, oder sie suchen nach einem Kompromiss.

Auf Washingtons Flughafen scheucht ein Flugzeug hunderte Vögel auf, der Bericht klingt lyrisch: „Alles, was Flügeln hat, fliegt“ (26. 11.). Die Mehrzahl von Flügel sind aber Flügel.

Kinder sind oft in Gefahr, besonders wenn sie „uneinsichtige Hauseinfahrten“ passieren (21. 11.). Hauseinfahrten haben offenbar wenig Einsehen.

Kopfrechnen ist schwer. „2017 wird zum 110. Mal der Revolution gedacht“ (28. 11.). Zum hundertsten Mal hätte auch gereicht – die Oktoberrevolution in Russland fand 1917 statt.

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Nicht immer ist mathematisch oder grammatikalisch alles so klar. Die Rechtschreibreform von 1996 hat uns zahlreiche Ermessensfälle beschert. Es lohnt sich, ein Wörterbuch neuester Auflage zurate oder auch zu Rate (ältere Form) zu ziehen – die rot gedruckte Variante wird im Duden empfohlen, die schwarz gedruckte bleibt erlaubt. Die Reformer hoffen, dass sich Lehrer und Schüler im Unterricht auf die neuen Formen konzentrieren und die alten vergessen. Den jüngsten Generationen werden dann vielleicht auch einige sattelfeste Journalisten entwachsen, die in der Zeitung die Reformversion zur allein gültigen verfestigen.

So die Theorie. In der Übergangsphase müssen alle mit der Unsicherheit zurande oder auch zu Rande kommen. Und achtgeben oder Acht geben, denn manchmal sagt der Duden „jetzt erst recht“. Das „recht“ schreibt man in dem Fall alternativlos klein.

Die absolute Wahrheit wird in einer lebendigen Sprache sowieso nie festzunageln sein. Außerdem hält sie Spitzfindigkeiten bereit. Lebensmitteluntersuchungen hätten die EU-Kommission dazu bewegt, Haltbarkeitsgrenzen zu überprüfen (19. 11.). Die Kommission wurde dazu aber nicht bewegt, sondern bewogen, nämlich „veranlasst“. Wird aber ein Gegenstand verschoben, dann wird er „bewegt“.

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Wie so oft sind im „Schaufenster“ Testerinnen am Werk und berichten aus ihrem Arbeitstag: „Als Hauptspeise hätten wir zu früherer Stunde die gebratene Käsekreiner mit Kartoffelschmarrn und Senfjus bestellt“ (26.11.). Über Käsekrainer hat es zwar schon einen Namensstreit zwischen Österreich und Slowenien gegeben, außer Streit schreibt sich die Krainer Wurst gemäß dem einstigen Herzogtum Krain aber mit ai. Das Wörterbuch kennt auch einen Schmarren. Dass dieser für die „Presse“ um einen Buchstaben kürzer nur ein Schmarrn ist, kann toleriert werden, aber wenn schon österreichisch, hätten die Testerinnen einen echten Erdäpfelschmarren aus heimischer Küche testen können. Und nicht einen Kartoffelschmarrn. Aber der hieß vermutlich schon auf der Speisekarte so.

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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