Das Neujahrskonzert und so manch unhaltbare Legende

Das Märchen vom unpolitischen Charakter des Konzerts.

Auch durch Wiederholung werden falsche Behauptungen nicht wahr. Im „Presse“-„Schaufenster“ schreibt Wilhelm Sinkovicz, das Neujahrskonzert feiere den 75. Geburtstag. Es ist der 76. – und das ist entscheidend, denn Sinkovicz wiederholt das Märchen vom unpolitischen Charakter des Konzerts: „Das ist ein Grund zum Feiern, gerade weil in jüngster Zeit stets ein paar Tage vor Silvester die Meldung wiedergekäut wird, das erste dieser Ereignisse hätte im Kriegsjahr 1939 stattgefunden und sei damit so etwas wie eine ,Kraft durch Freude‘-Aktion des Wiener Orchesters gewesen.“

Irrt der Autor oder verschweigt er bewusst, was er längst wissen müsste? Sowohl der deutsche Musikhistoriker Ralph Braun als auch – im Auftrag der Philharmoniker – der Schweizer Historiker Fritz Trümpi haben klar belegt, dass das Neujahrskonzert auf das Jahr 1939 zurückgeht und als Teil von Goebbels' NS-Propaganda-Maschinerie Stimmung für den gerade begonnenen Raubkrieg machen sollte.

Die Nazis hielten mit ihren Absichten nicht hinter dem Berg. Die „Wiener Neuesten Nachrichten“ berichteten am 22. Dezember 1939, die Philharmoniker hätten ihr Konzert „zur Gänze“ dem „Kriegswinterhilfswerk“ gewidmet. Und ob es Herr Sinkovicz wahrhaben möchte oder nicht: Die Nachfolgekonzerte standen im propagandistischen Dienst der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude. Das ist zwar Oliver Rathkolb und Clemens Hellsberg entgangen, nicht aber Ralph Braun und Fritz Trümpi. Letzterer schreibt, dass das Neujahrskonzert „Ergebnis einer nationalsozialistischen Kulturpolitik“ war.

Sogar ein Akt des Widerstands?

Herr Sinkovicz hingegen stilisiert das Neujahrskonzert allen Fakten zum Trotz sogar zur Widerstandshandlung: „Wer ein wenig über den Zeitgeschichtlerhorizont hinausdenkt, kann sich vorstellen, was es für Österreicher, die gerade zu ,Ostmärkern‘ degradiert worden sind, bedeutet haben mag, wenn die Philharmoniker Musik der Strauß-Dynastie unter Leitung des geborenen Wieners Clemens Krauss musiziert haben.“

Historische Fakten anerkennen

Welche Österreicher sind da gemeint? Der Philharmoniker Friedrich Buxbaum? Er konnte gerade noch flüchten, überlebte den Krieg und empfing „sein“ Orchester 1947 bei einem Gastkonzert in London mit bitteren Worten: „Ich habe euch stimmen gehört. Es klang wunderbar. Ganz judenrein.“

Oder der Primgeiger Josef Geringer, der nach Dachau verschleppt worden war? Der im KZ ermordete Armin Tyroler? Die Violinisten Moritz Glattauer, Viktor Robitsek, Anton Weiss, Max Starkmann und der Konzertmeister Julius Stwertka? Sie alle überlebten die NS-Zeit nicht. Zwölf Mitglieder der Philharmoniker wurden 1938 vom neuen kommissarischen Leiter, Wilhelm Jerger, aus „rassischen“ und politischen Gründen entlassen, ihr Eigentum „arisiert“. Wir wissen teilweise heute noch nicht, was damit passiert ist. Sie alle waren echte Österreicher.

Auch zum „geborenen Wiener Clemens Krauss“ ein Wort: Er suchte schon vor 1938 aktiv den Kontakt zu Adolf Hitler. Dieser schätzte und förderte den Dirigenten: Krauss wurde Generalmusikdirektor. Nach dem Krieg erhielt er wegen seiner Verstrickungen in den Nationalsozialismus bis 1947 Aufführungsverbot.

Für Wilhelm Sinkovicz mag der Zeitgeschichtlerhorizont irrelevant sein. Für den Kulturteil einer Qualitätszeitung wäre es angesichts der Geschichte des Neujahrskonzerts und des Schicksals der jüdischen Mitglieder des Orchesters angebracht, historische Fakten anzuerkennen, statt weiter an unhaltbaren Legenden zu stricken.

Dr. Harald Walser (*1953) ist Historiker. Er war Direktor des Gymnasiums Feldkirch; seit 2008 Abgeordneter zum Nationalrat und dort Bildungssprecher des grünen Klubs.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

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