Cameron, Merkel und die Zukunft der EU. Martin Schulz, der Untergangsprophet. Polen als Prüfstein.
Für ihre Leitartikel zur Jahreswende fühlten sich die Kommentatoren diesmal mehr, als bei diesem Anlass ohnehin schon üblich, dazu verpflichtet, Optimismus zu verbreiten. Da sie dieses Gefühl nur mit einer Minderheit unter ihren Lesern teilen, sind die Aufheiterungen etwas verkrampft ausgefallen: „Ohne Furcht und im Vertrauen auf die positiven Kräfte im Lande“ sollten die Menschen ins neue Jahr gehen, lautete ein solcher, gewiss richtiger Satz.
Noch waren die schönen Artikel nicht im Papierkorb gelandet, brach auch schon die schnöde Wirklichkeit in die Wunschwelt herein: Die Nachrichten von den Ausschreitungen in der Silvesternacht am Bahnhof von Köln; die französische Polizei führt ihren täglichen Kleinkrieg gegen irgendwelche versprengten Terror-Adepten, was bei uns kaum registriert wird; und der sonst nicht zu Alarmismus neigende Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hat in einem bemerkenswerten großen Interview mit der „Kleinen Zeitung“ dramatisch gesagt: „Europa steht am Abgrund“.
Zurecht nennt Schulz die europäische Einigung „einen der größten Zivilisationsfortschritte seit Jahrhunderten“. Die „Verschränkung von Ökonomien und Währungen, von wissenschaftlicher und kultureller Kooperation, von politischen Strukturen“ habe zu einer Friedens- und Wohlstandsperiode „ohne Vergleich in Europa geführt“. Niemand wird das bestreiten. Der Satz, der noch im Lissabon-Vertrag steht, dass die EU zu „einer immer engeren Union“ strebe, kommt Schulz zwar nicht mehr über die Lippen, aber er und seinesgleichen haben dennoch eine Alles-oder-Nichts-Perspektive: Entweder die jetzige EU und womöglich noch mehr davon oder der Untergang Europas.
Ein Beispiel dafür ist die Überhöhung der Schengen-Praxis zu einer Frage von Sein oder Nichtsein der EU. Einige EU-Staaten, die von der Massenimmigration am stärksten betroffen sind, erwägen die Wiedereinführung von durchgängigen Grenzkontrollen und dadurch die zeitweilige Aussetzung des Schengen-Raums. Das ist nach den Regeln von Schengen für bis zu zwei Jahre erlaubt, wenn sich ein Land in einer „akuten Krisensituation“ befindet. Dafür werden sie an den Pranger gestellt.
Die unbegrenzte Reisefreiheit war sicher ein wichtiger Sprung in der Entwicklung der EU, vor allem ein psychologischer. Aber eine wirkliche Essenz des europäischen Gedankens ist er nicht. Die Ersparnis von zehn Sekunden, die es dauert, einen Pass beim Autofenster hinauszuhalten oder in einen Schalter auf dem Flughafen zu schieben, wurde zum Fetisch eines vermeintlich grenzenlosen Europa hochstilisiert. Wer eine Flugreise macht, weiß, dass er für die Sicherheitskontrolle eine halbe bis zwei Stunden einplanen muss.
Die Wirklichkeit des Schengen-Raums schaut ohnehin anders aus: Am 26. Juli 2015 beispielsweise hat die Anfahrt vom Ende der slowenischen Autobahn bei Pettau bis zur 15 Kilometer entfernten kroatischen Grenze eineinhalb Stunden gedauert. Das ist aber nicht etwa daran gelegen, dass das Nicht-Schengen-Mitglied Kroatien die Einreisenden so scharf hat kontrollieren lassen, sondern daran, dass der Schengen-Staat Slowenien umständliche Kontrollen der Ausreisenden vorgenommen, dafür aber zu wenige Polizisten eingesetzt und dadurch einen Megastau verursacht hat.
Mit Schengen steht und fällt die EU also nicht und auch nicht mit den Tätigkeiten des von Schulz präsidierten EU-Parlaments, das sich mangels wichtiger Kompetenzen ein gesellschaftspolitisches Umerziehungsprojekt nach dem anderen einfallen lässt. Schulz beklagt deshalb, dass die EU ein Staatenverbund ist, der nur so stark sein kann, „wie die Mitgliedsstaaten es zulassen“. Er unterstellt, „ein Teil der Mitglieder will keine starke Union“, sondern nur „eine Geldverteilungsmaschine“. Letzteres stimmt auch, ist aber eine der Folgen genau jener „Gemeinschaftslösungen“, die Schulz immer fordert. Er ist einer der Hauptvertreter einer Umverteilungs- und Entmündigungsunion. Die Sozialunion, die er und seine Parteifreunde im EU-Parlament und in Deutschland ständig fordern, würde zu nur noch größeren Geldverteilungsströmen führen, als es sie schon gibt.
Man kann das Referendum über das Verbleiben Großbritanniens in der EU als Versuch der Zerstörung der EU betrachten und als Anfang vom Ende der Gemeinschaft. Oder man kann es als Chance sehen und von ihm eine katalysatorische Wirkung zur Einleitung eines Reformprozesses der EU erwarten. Die allzeit wendige Angela Merkel hat das schon bemerkt. Sie hat sich etwa einer der wichtigsten Forderungen Großbritanniens, der Eindämmung des innereuropäischen Sozialtourismus, schon angeschlossen. Es wird berichtet, sie habe vor dem Auftritt David Camerons bei der CSU im bayerischen Wildbad Kreuth ein sehr ersprießliches Gespräch mit dem Premierminister geführt.
Zum Vorwurf, London wolle die EU zu einer besseren Freihandelszone herabstufen, nur so viel: Kaum ein Land hält sich so penibel an EU-Regeln und Vereinbarungen wie gerade das Vereinigte Königreich.
Der Parlamentspräsident wirft den Staaten, die nicht seiner Konzeption einer Total-EU anhängen, Nationalismus vor. Das ist vor allem auf die Osteuropäer gemünzt. Die sogenannte Flüchtlingspolitik steht exemplarisch für die tiefen Auffassungsunterschiede, die in Europa von nationaler Identität und dem Verhältnis der Staaten zu einem supranationalen Gebilde wie der EU bestehen.
Merkels seltsamer Satz
In ihrer Neujahrsansprache hat Merkel einen seltsamen Satz gesagt, der kaum beachtet worden ist, aber die Dimension der Differenzen erkennbar werden lässt: Es komme darauf an, hat sie gesagt, denen nicht zu folgen, „die ein Deutschsein allein für sich reklamieren und andere ausgrenzen wollen.“ Die Bewohner der ehemaligen DDR müssen sich befremdet fragen, für wen sie eigentlich gehalten werden, wenn ihre Bundeskanzlerin die jetzige Immigration mit der deutschen Wiedervereinigung vergleicht.
Man kann sich schwer vorstellen, dass es ein Pole oder Franzose Immigranten, die keine Staatsbürger sind, überlassen wollte, zu definieren, was für polnisch oder französisch zu gelten hat. Dem deutschen „seid umschlungen, Millionen“ können und wollen die meisten europäischen Staaten nicht folgen. Auch noch so viel Geld aus der EU wird sie nicht dazu bewegen, schon gar, wenn es aus erpresserischen Gründen bezahlt wird.
Dass die EU genug Zusammenhalt und Instrumente zur Durchsetzung einer gemeinsamen Politik braucht, um die Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten zu bewahren, ist unbestritten. Darin wird man auch Schulz recht geben. Deshalb ist die polnische Politik, die möglicherweise auf Schwächung oder gar Ausschaltung der Gewaltentrennung abzielt, mit Sorge und jedenfalls größter Aufmerksamkeit zu betrachten. Wie der Fall Ungarn zeigt, sind Korrekturen auch durchsetzbar. Wenn Sanktionen der EU allzu durchsichtig nur dazu dienen, eine im Westen manchen missliebige Regierung der Rechten zu verhindern oder zu bestrafen, ist das eine zum Scheitern verurteilte Politik. In Österreich erinnert man sich noch gut daran.
DER AUTOR
Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.
Debatte@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2016)