Zornige junge Männer sind in Europa angekommen

Zwischen demografischer Verklärung und bitterer Neige zur Radikalisierung: noch eine Facette der Asyldebatte.

Europa benötige aufgrund seiner Überalterung die Zuwanderung, so die Befürworter des Kurses der deutschen Regierung – auch nach den Übergriffen der Silvesternacht. Das demografische Argument ist aber komplexer. Denn die Altersgruppe der 16- bis 17-Jährigen hat sich zum Beispiel in Schweden massiv verändert, wenn es um das Verhältnis der Geschlechter geht.

Ein Männerüberschuss, der jenen in der Volksrepublik China und Indien übertrifft, ist die Folge der Aufnahme von minderjährigen allein reisenden Flüchtlingen, die zu fast 100 Prozent männlich sind. In der Bundesrepublik Deutschland, deren Bevölkerung das Achtfache jener Schwedens ist, sind über zwei Drittel der 1,1 Millionen Asylwerber alleinstehende Männer – mit allen sich daraus ergebenden Problemen.

Die steigende Zahl sexueller Belästigungen und Vergewaltigungen ist eine davon. Was zuvor nur Randnotiz war oder in Schweden politisch gewollt verheimlicht wurde, hat infolge des Umfangs der Übergriffe auf Frauen durch junge Männer mit Asylstatus sowie die nach und nach bekannt gewordenen Polizeiberichte nun eine neue Dimension erreicht. Dieser muss sich die Politik stellen, denn nicht nur Deutschland steht „an der Kippe“, wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zu Recht titelt.

Gefährliches Ungleichgewicht

Die US-Politologin Valerie Hudson hat die schwedische Situation genauer untersucht und festgestellt, dass in der Teenager-Altersgruppe nunmehr 125 Männer 100 Frauen gegenüberstehen. Im Normalfall sollte sich diese Ratio um 103 zu 100 bewegen.

Infolge der bis vor Kurzem gültigen Ein-Kind-Politik Chinas und des damit einhergehenden „gendercide“ – also der Tötung von Mädchen beziehungsweise von weiblichen Föten – lautet die dortige Bevölkerungszahl 115 Männer zu 100 Frauen.

Die Sorge, dass China eines Tages seinen Männerüberschuss als Kanonenfutter in einem Kriegsgang im pazifischen Raum wieder loswerden könnte, bewegt Konfliktforscher und Militärs in den Vereinigten Staaten so sehr, dass sich einige Forschungsprojekte gezielt mit diesem Szenario befassen. Europäer befassen sich mit Bevölkerungsentwicklung aber stets nur aus Sicht der Pensionen, selten mit dem Blick auf Strategie.

Der französische Demograf Christophe Guilmoto warnte in einer Studie im Oktober 2011, als die Weltbevölkerung auf sieben Milliarden anstieg, dass uns das Problem des Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern als sicherheitspolitische Herausforderung zusehends beschäftigen werde. Guilmoto verwies auf das aus den Fugen geratene Geschlechterverhältnis in Indien und China, er sieht aber ähnliche Trends in muslimisch geprägten Gesellschaften im südöstlichen Europa. Im Zuge der Recherche für mein Buch „Testosteron Macht Politik“ befasste ich mich mit seinen Untersuchungen. Ich interessierte mich damals 2011 vor allem für die jungen zornigen Männer der arabischen Revolten, dachte aber nicht daran, dass dieses Problem auch mitten in Europa noch schlagend werden würde.

Im arabischen Raum fehlen die Frauen nicht physisch, doch die Ehe ist aufgrund der wirtschaftlichen Umstände unleistbar geworden. Es fehlt etwa in Kairo an Wohnraum, sodass die hohe Statistik der sexuellen Übergriffe in Ägypten zum Alltagsdrama der Frauen geworden ist. Über 80 Prozent der Ägypterinnen können von ihrem Leid berichten.

Als ich damals Soziologen und Feministinnen interviewte, berichteten mir alle, dass es völlig egal ist, welchen Alters die Frauen sind, ob mit Burka oder nur mit Schleier unterwegs. Kleine Mädchen würden ebenso wie Greisinnen vergewaltigt, war die bedrückende Diagnose zur sexuellen Frustration, die ich zu hören bekam.

Aufrufe zur Selbsthilfe

Was in Ägypten oder Indien aufgrund besonders brutaler Fälle, einer mutigen Berichterstattung und einer für das Thema sensibilisierten Bevölkerung immer offener in der dortigen Politik angesprochen wird, droht in einigen europäischen Staaten hingegen zum Spaltpilz zu werden.

Die Situation in Deutschland und Österreich schwankt zwischen Naivität und dem Aufruf zur Selbsthilfe, die den Trend der Bewaffnung beschleunigt. Denn warnen die einen – meist im grünen und linken Lager angesiedelt – gleich vor Rassismus und Verhetzung, weil das Thema endlich aufgegriffen wird, sehen die anderen im rechten Spektrum sich in ihren Warnungen bestätigt.

Hinzu tritt eine weitere brisante Dimension. Denn wenn die Polizei zur Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols von der Politik allein gelassen wird – und das war in Köln klar der Fall –, dann wachsen die privat organisierten Sicherheitstrupps. Die deutsche Polizistin Tania Kambouri setzte mit ihrem Buch „Deutschland im Blaulicht“ einen Notruf ab, den ihre österreichischen Kolleginnen wohl nur bestätigen können.

Verdüsterte Stimmung

Denn es sind junge muslimische Männer, die Polizistinnen nicht ernst nehmen und sie als „Schlampen“ beschimpfen oder gar sexuell belästigen. Weil man unverschleiert als Europäerin in der U-Bahn unterwegs ist, kann man ebenso rasch als Hure bezeichnet werden. Das passiert Tausenden Frauen – ob in Paris, Wien oder München.

Die französische Schauspielerin Isabelle Adjani reagierte darauf mit dem Film „Heute trage ich Rock“, denn selbst ernannte Sittenwächter, die Frauen in ihren Vierteln nur breite Hosen zugestehen, sind in vielen französischen Städten inzwischen Ausdruck einer neuen Gesellschaft.

Zurück zur Demografie. Glaubt man die Jubelmeldungen so mancher Ökonomen, so frischt die neue Form der unkontrollierten Massenzuwanderung nur das Pensionopolis in Deutschland und Österreich auf. Aber man muss sich auch im Klaren sein, dass sich durch die Zuwanderung das kulturelle Umfeld wandelt. Wie weit die Menschen diesen Wandel mittragen, ist mehr als fraglich.

Die Stimmung in den aktuellen Zufluchtsländern des großen Exodus verdüstert sich. Junge Menschen, die bisher wenig oder nichts mit Politik und Religion am Hut hatten, werden konservativer und extremer. Dies alles ist nachvollziehbar, zumal wir uns in einem politischen Vakuum bewegen, in dem die regierenden Parteien versagt haben.

Die Ironie der Geschichte

Nicht auszuschließen ist, dass auch militante junge Christen im Namen ihrer selbst gestrickten Slogans mit den radikalen Muslimen auf Konfrontationskurs gehen. Diese Trends kennen wir aus Russland, und wir erlebten sie bereits vor 20 Jahren im zerfallenden Jugoslawien.

In Großbritannien blickt man voller Schrecken auf die Entwicklungen in Deutschland, dessen Regierung einige englische Kommentatoren nur noch als „the Hippie Government“ bezeichnen. Ein britischer Bekannter meinte neulich: „Es ist schon eine Ironie der Geschichte, wie Deutschland zum dritten Mal binnen eines Jahrhunderts Europa in den Zerfall führt.“

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Karin Kneissl
(* 1965 in Wien) studierte Jus und Arabistik in Wien. Sie war 1991/1992 Studentin an der ENA. 1990 bis 1998 im diplomatischen Dienst, danach Lehrtätigkeit. Zahlreiche Publikationen, darunter: „Die Gewaltspirale. Warum Orient und Okzident nicht miteinander können“ (2007); „Testosteron Macht Politik“ (2012) . [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2016)

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