Welche Gefahren ein schlappes Europa birgt

Für die US-Diplomatie stellt nicht ein starkes Europa eine Herausforderung dar. Das Problem ist ein schwaches Europa.

Nachdem US-Präsident Barack Obama eine strategische Hinwendung der Außenpolitik Washingtons nach Asien angekündigt hatte, äußerte man in Europa vielerorts Sorge über eine Vernachlässigung durch die USA. Angesichts der anhaltenden Flüchtlingskrise, der russischen Okkupation der Ostukraine, der illegalen Annexion der Krim sowie der Bedrohung durch einen Austritt Großbritanniens aus der EU könnte 2016 für die amerikanische Diplomatie zwangsläufig zu einem „Jahr Europas“ werden.

Ungeachtet aller Schlagworte verfügt Europa nach wie vor über beeindruckende Machtressourcen und ist für die USA von entscheidender Bedeutung. Die US-Wirtschaft ist zwar viermal größer als diejenige Deutschlands, doch insgesamt liegt die Ökonomie aller 28 EU-Mitglieder gleichauf mit der amerikanischen Wirtschaft. Und mit einer Einwohnerzahl von 510 Millionen übertrifft Europa den entsprechenden amerikanischen Wert von 320 Millionen in beträchtlichem Ausmaß.

Ja, das Pro-Kopf-Einkommen liegt in Amerika höher. Doch im Hinblick auf Humankapital, Technologie und Exporte kann die EU den USA sehr wohl als ebenbürtig betrachtet werden.

Nachlassende Anziehungskraft

Bis zur Krise des Jahres 2010, als die Haushaltsprobleme in Griechenland und anderswo für Unruhe auf den Finanzmärkten sorgten, hatten manche Ökonomen spekuliert, dass der Euro den Dollar als primäre Reservewährung bald ablösen könnte. Hinsichtlich militärischer Ressourcen gibt Europa weniger als die Hälfte dessen aus, was die USA für ihre Verteidigung aufwenden, wobei in Europa jedoch mehr Männer und Frauen unter Waffen stehen. Großbritannien und Frankreich verfügen über Atomwaffen und begrenzte Kapazitäten für Interventionen in Afrika sowie im Nahen Osten. Beide beteiligen sich als aktive Partner bei den Luftschlägen gegen den Islamischen Staat.

Im Hinblick auf weiche Macht übte Europa lange Zeit über große Anziehungskraft aus, und Europäer spielten eine maßgebliche Rolle in internationalen Organisationen. Aufgrund der Wahrnehmung, dass die europäische Einigung rund um gemeinsame Institutionen stattfindet, wurde die EU für die europäischen Nachbarn höchst attraktiv, obwohl diese Anziehungskraft nach der Finanzkrise nachgelassen hat.

Die entscheidende Frage bei der Beurteilung der europäischen Machtressourcen lautet: Verfügt die EU über ausreichend Zusammenhalt, um in internationalen Fragen mit einer Stimme sprechen zu können? Oder handelt es sich bei ihr lediglich um eine Gruppierung, die sich auf der Grundlage unterschiedlicher nationaler Identitäten, politischer Kulturen und außenpolitischer Strategien ihrer Mitglieder definiert?

Die Antwort darauf fällt je nach Thema unterschiedlich aus. Bei Handelsfragen etwa ist Europa den USA ebenbürtig und auch in der Lage, einen Ausgleich zur US-Macht zu bilden. Im Internationalen Währungsfonds spielen nur die USA eine größere Rolle als Europa.

In Fragen des Kartellrechts führten Größe und Attraktivität des europäischen Markts dazu, dass die Absichten fusionierungswilliger amerikanischer Unternehmen von der Europäischen Kommission ebenso genehmigt werden müssen wie vom US-Justizministerium. In der Cyberwelt gibt die EU die weltweiten Standards für den Datenschutz vor, an denen amerikanische und andere multinationale Konzerne nicht vorbeikommen.

Doch die europäische Einheit ist mit erheblichen Einschränkungen konfrontiert. Nationaler Identität wird noch immer Vorrang vor einer europäischen Identität eingeräumt. Rechtspopulistische Parteien haben mittlerweile die EU-Institutionen zu Zielen ihrer Fremdenfeindlichkeit auserkoren.

Wenn Großbritannien austritt

Zwar schreitet die rechtliche Integration innerhalb der EU voran, doch die Integration der Außen- und Sicherheitspolitik stößt immer noch an ihre Grenzen. Und der britische Premierminister, David Cameron, versprach, die Macht von EU-Institutionen weiter einschränken zu wollen und die Ergebnisse seiner Verhandlungen mit den EU-Partnern zum Gegenstand eines Referendums Ende 2017 zu machen. Stimmt Großbritannien mit Nein und tritt aus der EU aus, hätte das erhebliche Auswirkungen auf die Moral in der EU.

Aufgrund niedriger Geburtenraten und weit verbreiteter Abneigung gegen Masseneinwanderung ist Europa auf lange Sicht mit gravierenden demografischen Problemen konfrontiert. Obwohl die aktuelle Einwanderungswelle das langfristige demografische Problem Europas lösen könnte, bedroht sie die europäische Einheit. Aufgrund enormer Zuwanderungsraten (über eine Million 2015) und des muslimischen Hintergrunds vieler Neuankömmlinge gestaltet sich die politische Gegenreaktion in den meisten europäischen Ländern durchaus drastisch.

Große interne Differenzen

Auf lange Sicht besteht nur eine geringe Gefahr, dass Europa für die USA zu einer Bedrohung werden könnte – und das nicht nur aufgrund der geringen europäischen Militärausgaben. Europa verfügt über den größten Markt der Welt, aber dem Kontinent fehlt es an Einigkeit. Und auch seine Kultur- und Kreativwirtschaft präsentiert sich beeindruckend – obwohl hinsichtlich höherer Bildung festzustellen ist, dass sich zwar 27 europäische, aber gleich 52 amerikanische Universitäten unter den hundert besten Bildungsinstitutionen der Welt befinden.

Gelänge es Europa, seine internen Differenzen zu überwinden und zu versuchen, die USA auf globaler Ebene herauszufordern, würde man damit zwar teilweise ein Gegengewicht zur Weltmacht USA bilden, wäre ihr aber nicht ebenbürtig. Für die US-Diplomatie besteht die Gefahr allerdings nicht darin, dass Europa zu stark wird, sondern dass es zu schwach ist. Bleiben Europa und Amerika weiterhin Verbündete, wird dies eine wechselseitige Verstärkung ihrer Ressourcen mit sich bringen.

Trotz unvermeidlicher Spannungen, die für einen Bremseffekt bei den Verhandlungen für die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft sorgen, ist eine wirtschaftliche Trennung unwahrscheinlich. Obama wird im April nach Europa reisen, um für die TTIP zu werben.

Gemeinsame Werte

Die Direktinvestitionen zwischen Europa und den USA sind größer als die entsprechenden Werte zwischen den USA und Asien. Auch das hilft, die Ökonomien miteinander zu verknüpfen. Und obwohl Amerikaner und Europäer einander jahrhundertelang herausgefordert haben, teilen sie die Werte der Demokratie und der Menschenrechte in höherem Maße miteinander als mit anderen Regionen der Welt.

Weder starke Vereinigte Staaten noch ein starkes Europa bedrohen die entscheidenden oder wichtigen Interessen des jeweils anderen. Ein 2016 schwächer werdendes Europa allerdings könnte beiden Seiten schaden.

DER AUTOR

Joseph S. Nye (* 1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–1994) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–1995).
Sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ Zuletzt war er Kovorsitzender einer Diskussionsrunde der Aspen Strategy Group zum Thema „Islamischer Staat“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2016)

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