Englands Stimme wird immer lauter

Dem Vereinigten Königreich droht die Zersplitterung, aber nicht wegen der Schotten, Waliser oder Iren.

Nach einer weitverbreiteten Annahme würden die Schotten im Fall eines britischen Neins zu Europa ein zweites Unabhängigkeitsreferendum fordern und so den Zerfall des Vereinigten Königreichs einläuten. Führende Politiker der schottischen Nationalpartei (SNP) betonen, dass man Edinburgh „nicht gegen seinen Willen aus der EU drängen“ wird.

Die Schotten könnten mit der Durchführung eines weiteren Referendums, das Uneinigkeit stiftet, schlecht beraten sein. Schon bald wird Schottland mehr finanzielle Unabhängigkeit erhalten. Andererseits verdüstern die sinkenden Ölpreise die Aussichten auf eine lichte Zukunft.

Der Auslöser für die mögliche Zersplitterung des Vereinigten Königreichs könnte indes aus südlicher Richtung, also aus England kommen. Und in der Tat hat dieser Prozess bereits begonnen. Nach dem schottischen Referendum 2014 stand Premier Cameron an der Tür zur Downing Street Nummer 10 und verkündete: „Wir haben die Stimme Schottlands gehört, jetzt müssen die Millionen Stimmen Englands gehört werden.“

Seither hat die Cameron-Regierung Veränderungen in der parlamentarischen Geschäftsordnung eingeführt, damit Vertreter schottischer Wahlkreise von Teilen des Gesetzgebungsverfahrens ausgeschlossen werden können, wenn rein „englische“ Angelegenheiten besprochen werden. Diese Regelung trifft die Abgeordneten der SNP, die bei der letzten Wahl in Schottland Sitze der Labour-Partei erobert haben.

England in der Offensive

Zurzeit läuft eine Kampagne, die sich für eine eigene englische Nationalhymne einsetzt, die zusätzlich zu „God Save the Queen“, der Nationalhymne des Vereinigten Königreichs, existieren soll. Die Mehrzahl der Befragten hat sich für die alte Hymne „Jerusalem“ ausgesprochen, die häufig am Ende von Labour-Parteitagen gesungen und auch von David Cameron favorisiert wird. England will nicht „der Teil sein, der übrig bleibt“, wenn Wales, Schottland und Nordirland mehr Autonomie bekommen – und es geht in die Offensive.

Dezentralisierungsprozess

Die konservative Regierung plant zudem die Einführung einer neuen britischen Grundrechtecharta (Bill of Rights) als Ersatz für das Gesetz über Menschenrechte (Human Rights Act), das von einer früheren Labour-Regierung eingeführt wurde. Hierbei würde es sich in der Tat nur um ein englisches Gesetz handeln, da Menschenrechtsbestimmungen in den jeweiligen Rechtsordnungen von Schottland, Nordirland und Wales verankert sind, wo es hinsichtlich Veränderungen Widerstand gibt.

Was auch immer nach dem Referendum über die Beziehung des Vereinigten Königreichs zur EU geschieht – das Land befindet sich bereits in einem Dezentralisierungsprozess. Dieser könnte das Land voranbringen auf seinem Weg zu einem quasiföderalen Staat von einer Art, wie er in der heutigen Welt unbekannt ist.

Diese Art des Föderalismus stünde in Anbetracht des englischen Bevölkerungsanteils von 85 Prozent vor vielen Herausforderungen. Das Vereinigte Königreich überlebte jahrhundertelang durch einseitige finanzielle Vereinbarungen und politisches Ungleichgewicht. Wenn der Peripherie nun mehr Macht gewährt werden würde, könnte es paradoxerweise sein, dass Edinburgh eher geneigt wäre, den Status quo zu erhalten, England im Hinblick auf Veränderungen im Interesse der „Fairness“ aber zunehmend ungeduldiger würde.

Die englische Stimme beginnt, sich Gehör zu verschaffen. Genau das könnte den Zerfall des Vereinigten Königreichs hervorrufen – und nicht die Iren, Waliser oder Schotten.

Melanie Sully ist eine britische Politologin und leitet das in Wien ansässigen Institut für Go-Governance.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2016)

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