Zerfällt die EU wegen ihrer extremen Ränder?

Rechtsnationalisten und Linkspopulisten gewinnen an Zulauf – zu einer Zeit, da eine starke, vernünftige Mitte gebraucht würde.

Die Massenflucht aus dem Nahen Osten und aus Afrika nach Europa hat unseren Kontinent und vor allem die EU innerhalb eines Jahres so grundlegend verändert, wie man sich das bisher nicht vorstellen konnte. Die Anzeichen, die es seit Jahren gab, wurden lange Zeit negiert. Italiens Hilferufe wegen tausender über das Meer kommender Flüchtlinge verhallten ungehört. Süditalien ist weit von Brüssel, Wien, Berlin, Paris entfernt. Sollten die Italiener doch selbst schauen, wie sie damit fertig würden.

Erst als die Flüchtlinge vor der Haustür standen, waren wir betroffen, helfend oder ablehnend. Viele in Westeuropa können sich heute immer noch nicht vorstellen, wie es ist, wenn Tausende Flüchtlinge unkontrolliert in ein Land kommen, um durchzuziehen oder um zu bleiben.

Durch die europäische Gesellschaft und durch die EU geht ein tiefer Riss. Die radikalen gesellschaftlichen Ränder verbreitern sich gefährlich in Zeiten, in denen gerade eine starke, stabile und vernünftige Mitte gebraucht würde. Mit Sorge müssen wir beobachten, wie viele aus der bürgerlichen Mitte an die Ränder abdriften.

Ablehnung der EU

Diejenigen, die eine grenzenlose Willkommenskultur befürworten, werden in einen immer aggressiveren Konflikt mit den Gegnern alles Fremden geraten und die jeweiligen Anhängerschaften in die Auseinandersetzung hineinziehen.

Die Kalter-Krieg-Stellvertreter-Spiele der Großmächte und die in diesem Klima gewachsenen kriminellen Terroristen sind wesentlich verantwortlich für die nicht mehr zu verkraftende Anzahl von Flüchtlingen. Die beachtlichen Wahlerfolge von Rechtsnationalisten und Linkspopulisten lassen für das gemeinsame Europa nichts Gutes erwarten. In mehreren Ländern haben die EU-kritischen Rechtsnationalisten bereits die Macht übernommen, zuletzt in Polen. In anderen klopfen sie heftig an die Tore der Regierungsgebäude: in Frankreich, Dänemark, Finnland und auch in Österreich. Ebenso die Linkspopulisten: in der Slowakei, in Portugal und in Griechenland.

Sie alle haben eines gemeinsam: ihre äußerst kritische bis grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Europäischen Union. Zur Lösung der Flüchtlingsproblematik haben sie außer starken Worten nichts Konkretes anzubieten. Sie nützen die neu gewonnene Stärke, um Demokratie und Rechtsstaat in ihre Richtung zu beugen und zu reduzieren.

Das Jahr 2016 wird wieder eine Reihe wichtiger nationaler, regionaler und kommunaler Wahlen bringen: Parlamentswahlen in der Slowakei, in Litauen und in Russland; mindestens sieben Landtags- und Kommunalwahlen in Deutschland; Wahlen in Nordirland, Schottland, Wales und London. Alle diese Wahlgänge werden vom Flüchtlingsproblem, vom Terror, vom Krieg im Nahen Osten dominiert sein. Zusätzlich plant der britische Premier noch sein EU-Referendum.

Gewinner werden Rechtsnationalisten und Linkspopulisten und damit die EU-Kritiker sein. Der sozialdemokratische, nationalpopulistische Premier der Slowakei, Robert Fico, wird seine Mehrheit durch eine noch extremere, unsolidarische Flüchtlingspolitik abzusichern versuchen. Immer mehr von diesen EU-Widersachern werden in den Entscheidungsgremien – vor allem im Rat – der EU sitzen und diese schwächen, wo es geht.

Wie aber soll eine EU funktionieren, in der immer mehr Vertreter von Regierungen mitentscheiden, die die Union gar nicht wollen? So, wie man bei den autoritären Bewegungen der Zwischenkriegszeit sagen konnte „Ins Parlament, um es zu zerstören“, gilt für Rechts- und Linkspopulisten heute: „In die EU, um sie zu zerstören.“ Und dies gerade dann, da es dringend notwendig wäre, der Europäischen Kommission die Kompetenzen und das Geld zu geben, um die Außengrenzen der EU raschest besser zu sichern.

Europas Gift: Nationalismus

Auch der finanzielle Problemfall Griechenland ist noch lange nicht bereinigt und bedarf einer starken EU. Die Ausgrenzung Russlands, das man zur Lösung der zahlreichen internationalen Konflikte dringend braucht, kann nur durch ein starkes, selbstbewusstes Europa, das nicht nur das Beiwagerl der USA ist, bereinigt werden.

Die EU-Mitgliedstaaten müssten endlich einsehen, dass nationalstaatliche Egoismen diese Megaprobleme nicht lösen und dem Einzelstaat maximal eine kurzfristige Verschnaufpause bringen. Wenn es auf diesem Kurs weitergeht, wird die EU zur Bedeutungslosigkeit herabsinken.

Eine Zeit lang werden die Staaten dann noch ihre nationalen Süppchen kochen können und schließlich in einem europäischen Chaos und in internationaler politischer und wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit versinken. Die große Friedensidee Europa wird dem einzelstaatlichen Egoismus zum Opfer gefallen sein. Der Nationalismus wirkt – wie schon immer in der Geschichte – als Gift Europas.

Lockruf der Wahhabiten

Terrorbekämpfung und Bewältigung des Flüchtlingsproblems können nur europaweit gelingen. Wie man sieht, hat etwa der kriminelle IS sein Netz über ganz Europa und darüber hinaus gespannt. Der Dilettantismus von Regierungen à la Österreich – aber nicht nur hier – führt zu Vertrauensverlusten in die Regierenden, die gerade in Zeiten wie diesen das Vertrauen ihrer Bevölkerung dringend brauchten.

Und noch etwas: In Südosteuropa bereitet sich eine Reihe von Staaten darauf vor, in einem mühsamen Integrationsprozess einem EU-Beitritt näherzukommen. Das wird noch Jahre dauern, aber die Beitrittsperspektive muss aufrecht bleiben. In praktisch all diesen Ländern – ob in Serbien, Mazedonien, Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kosovo – gibt es starke eingesessene europäische muslimische Minderheiten bzw. Mehrheiten, die immer stärker vom Einfluss der konservativ-fundamentalistischen Wahhabiten aus Saudiarabien bedrängt werden.

Diese extreme islamische Lehre stößt in den genannten Ländern in das Vakuum vor, das Europa freilässt. Wenn wir in diesem Teil Europas jungen Muslimen, von denen 60 bis 70 Prozent ohne Arbeit und Zukunft sind, keine europäische Perspektive bieten, werden sie sich radikalen Lockrufen zuwenden. Dann haben wir, eine Flugstunde von Wien entfernt, neue terroristische Zellen mitten in Europa.

Friedensprojekt droht Kollaps

Schritte zur Erweiterung der Union in diesen Raum Europas können allerdings nur von einer starken, aber nicht von einer geschwächten EU unternommen werden.

Wenn der Siegeszug der Rechts- und Linksnationalisten in Europa – über den Umweg der ungelösten Flüchtlingsproblematik – so weitergeht, werden das Friedensprojekt EU und seine Werte und Grundsätze kollabieren. Dann werden Terroristen und jene, denen ein starkes Europa schon immer ein Dorn im Auge war, die Sieger sein. Wenn dieses Europa in nächster Zeit wieder einigermaßen zur Normalität zurückfinden will, ist dies nur durch die Rückkehr aller gesellschaftlichen Kräfte zu einer stabilen, vernünftigen Position der Mitte möglich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.