Fünf Wahrheiten über den Terrorismus

Wenn wir es zulassen, dass Terroristen die Hauptrolle in unserem öffentlichen Diskurs einnehmen, untergraben wir die Qualität unseres bürgerlichen Lebens. Lassen wir die Verbrecher in einem leeren Theater spielen.

Die Terroristen haben die Politik der USA erobert. Im Dezember 2015 zeigten Umfragen, dass etwa 16 Prozent der Bevölkerung den Terrorismus als das wichtigste nationale Problem betrachten, wobei der entsprechende Wert im Vormonat bei lediglich drei Prozent lag. Somit weist diese Einschätzung des Terrorismus den höchsten Wert innerhalb eines Jahrzehnts auf, obwohl er noch immer unter jenen 46 Prozent liegt, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erhoben wurden.

Die Auswirkungen dieses Umschwungs in der öffentlichen Meinung treten bei den Vorwahlen der Republikaner um die Präsidentschaftskandidatur besonders drastisch zutage. Sie begünstigen mit Sicherheit die Kandidatur Donald Trumps, dessen antimuslimische Rhetorik besonders schroff, wenn nicht gar hetzerisch ausfällt. Manche Politiker beginnen, den Kampf gegen den Terrorismus als „Dritten Weltkrieg“ zu bezeichnen.

Worum es Terroristen geht

Der Terrorismus ist ein Problem für die Vereinigten Staaten, wie der Anschlag im kalifornischen San Bernardino im vergangenen Dezember zeigte. Doch dieses Ereignis wurde aufgeblasen – und zwar sowohl von den Präsidentschaftskandidaten wie auch von den Medien, die nach dem alten Motto agieren: „Wo Blut fließt, sind Schlagzeilen sicher.“ Um den Terrorismus in die richtige Perspektive zur rücken, sollten folgende Überlegungen berücksichtigt werden:

Terrorismus ist eine Form des Theaters. Den Terroristen geht es weniger um die Zahl der von ihnen verursachten Todesopfer als vielmehr darum, Aufmerksamkeit zu erregen und für ihre Anliegen zu werben. Der Islamische Staat (IS) legt großen Wert auf Dramaturgie. Die barbarischen Enthauptungen, die über die sozialen Netzwerke verbreitet werden, sollen Schock und Entrüstung auslösen. Indem wir ihre Wirkung aufbauschen und aus jedem terroristischen Akt eine Titelgeschichte machen, spielen wir den Terroristen in die Hände.

Terrorismus ist nicht die größte Bedrohung der Menschen in den Industrieländern. Durch Terrorismus finden viel weniger Menschen den Tod als durch Unfälle oder Zigaretten. Tatsächlich ist der Terrorismus keine große Bedrohung – und eigentlich nicht einmal eine kleine. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen Blitzschlag umzukommen, liegt höher, als von einem Terroristen getötet zu werden. Experten schätzen das jährliche Risiko eines US-Bürgers, von einem Terroristen getötet zu werden, auf eins zu 3,5 Millionen. Für US-Amerikaner ist es wahrscheinlicher, bei einem Unfall in der Badewanne (eins zu 950.000), mit einem Haushaltsgerät (eins zu 1,5 Millionen), mit Rotwild (eins zu zwei Millionen) oder in einem Verkehrsflugzeug (eins zu 2,9 Millionen) ihr Leben zu verlieren.

Kein Dritter Weltkrieg

Jedes Jahr sterben 6000 US-Bürger, weil sie am Steuer SMS-Nachrichten tippen oder telefonieren. Das sind Hunderte Mal mehr Menschen, als durch Terrorismus umkommen. Dem radikalislamischen Terrorismus fallen weniger Amerikaner zum Opfer als den Attacken frustrierter Todesschützen am Arbeitsplatz oder in Schulen. Der Terrorismus ist kein Dritter Weltkrieg.
Globaler Terrorismus ist kein neues Phänomen. Es dauert oft eine ganze Generation, bis eine Welle des Terrorismus wieder abebbt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts töteten Anarchisten etliche Staatschefs für utopische Ideale. In den 1960er- und 1970er-Jahren entführten die Roten Brigaden und die Rote-Armee-Fraktion der „neuen Linken“ Verkehrsflugzeuge und ermordeten führende Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik (sowie auch gewöhnliche Bürger).

Bei den jihadistischen Extremisten von heute handelt es sich um ein altes politisches Phänomen in religiösem Gewand. Zahlreiche ihrer Anführer sind keine traditionellen Fundamentalisten, sondern Menschen, die durch die Globalisierung ihrer Identität beraubt wurden und nun in der imaginären Gemeinschaft eines rein islamischen Kalifats nach Sinn suchen.

Begrenzte Anziehungskraft

Sie zu bezwingen wird Zeit und Aufwand erfordern, aber der lokale Charakter des IS beschränkt auch seine Anziehungskraft. Mit seinen religiös motivierten Attacken spricht er nicht einmal alle Muslime an, geschweige denn Hindus, Christen und andere. Letzten Endes wird man den IS ebenso besiegen wie früher andere grenzüberschreitend agierende Terroristen.

Terrorismus ist wie Jiu-Jitsu. Der unterlegene Akteur bedient sich der Kraft des stärkeren Gegners, um ihn zu besiegen. Keine Terror-Organisation ist so mächtig wie ein Staat, und nur wenigen terroristischen Bewegungen gelang es, einen Staat niederzuringen.

Wenn es Terroristen aber fertigbringen, unter den Bürgern des Staates Frustration und Entrüstung zu säen und diese zu kontraproduktiven Maßnahmen zu veranlassen, dürfen sie hoffen, die Oberhand zu behalten. Al-Qaida gelang es, die USA im Jahr 2001 nach Afghanistan zu locken. Die Geburtsstunde des IS schlug in den Trümmern der anschließenden US-geführten Invasion des Irak.

Smart Power ist notwendig, um den Terrorismus zu besiegen. Bei intelligenter Macht handelt es sich um die Fähigkeit, harte militärische oder polizeiliche Macht mit der weichen Macht der Attraktivität und Überzeugungskraft zu kombinieren. Der Einsatz harter Macht ist notwendig, um hartgesottene Terroristen zu töten oder gefangen zu nehmen. Gleichzeitig bedarf es weicher Macht, um diejenigen an der Peripherie zu immunisieren, auf die es die eingefleischten Terroristen abgesehen haben, wenn es darum geht, sie zu rekrutieren.

Kontraproduktive Rhetorik

Aus diesem Grund sind die Beachtung des Narrativs und die Art und Weise, wie Aktionen der USA in den sozialen Medien dargestellt werden, ebenso wichtig wie präzise Luftangriffe. Feindselige Rhetorik, die Muslime entfremdet und ihre Bereitschaft schwächt, entscheidende Informationen preiszugeben, bringt uns alle in Gefahr. Deshalb ist die antimuslimische Haltung mancher US-Präsidentschaftsbewerber auch so kontraproduktiv.

Der Terrorismus ist eine ernste Angelegenheit, und unsere Nachrichtendienste, Polizei, Militär und Diplomatie müssen ihm oberste Priorität einräumen. Er ist ein wesentlicher Bestandteil der Außenpolitik. Und es ist von entscheidender Bedeutung, Massenvernichtungswaffen außerhalb der Reichweite von Terroristen zu halten.

Dennoch sollten wir nicht in die Falle der Terroristen tappen. Lassen wir die Verbrecher in einem leeren Theater spielen. Wenn wir es zulassen, dass sie die Hauptrolle in unserem öffentlichen Diskurs einnehmen, untergraben wir die Qualität unseres bürgerlichen Lebens und verzerren unsere Prioritäten. Unsere eigene Stärke wird gegen uns eingesetzt.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier Copyright: Project Syndicate, 2016.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Joseph S. Nye Jr. (geboren 1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–95). Sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ Zuletzt war er Ko-Vorsitzender einer Diskussionsrunde
der Aspen Strategy Group zum Thema „Islamischer Staat“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2016)

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