Flüchtlinge, Brexit, EU: Unreflektierte Mantras

In den Debatten über das Flüchtlingsproblem ebenso wie über ein mögliches Ausscheiden Großbritanniens aus der EU tauchen immer wieder dieselben Stehsätze auf. Höchste Zeit, diese einmal zu hinterfragen.

Friedhelm Frischenschlager hat in seinem Gastkommentar („Presse“ vom 23. 2.) den Zerfall der europäischen Politik im Umgang mit den Flüchtlingsproblemen zutreffend beschrieben. Leider münden auch seine Ausführungen in Stehsätze, ohne darauf einzugehen, wie diese Probleme denn zu lösen wären.

Wenigstens aber hat er auf das übliche Standardmantra verzichtet: Kriege sind zu verhindern, damit erst niemand flüchten müsse; mit Marschallplänen sei Afrika zur wirtschaftlichen Blüte zu bringen, damit niemand mehr emigrieren müsse. An wen richten sich solche Forderungen denn? Und wer sollte sie durchsetzen – wie richtig sie auch immer sein mögen?

Streitfrage Grenzsperren

Frischenschlager richtet dafür eine Forderung an Außenminister Sebastian Kurz: Von der UNO sei zu verlangen, die Finanzierung der Flüchtlingslager in Jordanien, Libanon und in der Türkei wieder aufzunehmen. Ja, warum fordert er denn nicht zunächst einmal die Entrichtung des österreichischen Beitrages, dann jenen der EU? Das läge doch eher im unmittelbaren und mittelbaren Einflussbereich von Kurz.

Dann greift Frischenschlager zu einem der beliebtesten Mantras in der Flüchtlingsdebatte: Man könne Flüchtlingsströme mit Grenzsperren nicht aufhalten. Wenn das tatsächlich so wäre, müssten wir die Sache als gelaufen betrachten und könnten der Völkerwanderung entspannt zusehen.

Dass zur Souveränität gesicherte Grenzen gehören, wird in der Staatstheorie niemand bestreiten. Dass ihr Schutz nur vom Einsatz der Mittel abhängt, zeigt Spanien in Ceuta und Melilla seit Jahren mit dem Segen der EU. Grenzsicherung geht nur dann nicht, wenn man nicht in der Lage ist, entsprechende Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Frischenschlagers nächster Stehsatz: Die Nationalstaaten könnten das Problem nicht in den Griff kriegen, es brauche eine europäische Lösung. Das hat wohl jeder Hausmeister schon vor Bundeskanzler Faymann verstanden, aber keiner weiß, wie man Europa zu einer Lösungskapazität bringt.

Frischenschlager fordert eine gebündelte EU-Politik: Wer glaubt noch daran? Die nationalen Alleingänge sind ja die Folge der Unfähigkeit der EU, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu machen und nicht deren Ursache.

Schließlich stellt Frischenschlager die Standardfrage: Wann wird die Regierung dem Volk klarmachen, wie unverzichtbar die EU und eine entsprechende europapolitische Bildung ist? Eine legitime Frage, die der österreichischen Grundstimmung, die Vorteile der EU zu wollen, aber doch neutral außen vor zu bleiben, wenn es einmal um eine härtere Verpflichtung geht, entgegensteht.

Europas Machtfrage

Wollen die Österreicher eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik? Darum geht es bei der Machtfrage Europas, und damit auch bei der Kontrolle der Migrationsströme. Die bloße Forderung nach Entwicklung eines europäischen Bewusstseins weicht hier aus. Wer von den EU 28 will denn diese Vertiefung zu einer mächtigen und handlungsfähigen EU? Die dürftige Antwort darauf zeigt die schwache Perspektive für einen Machtfaktor Europa. Soweit zu Frischenschlagers sympathischen, aber zahnlos im Raum herumschwebenden Wünschen.

Mantras gewinnen ihre gestaltende Kraft angeblich aus ihrer permanenten Wiederholung. Mir scheinen Mantras eine eher geisttötende Wirkung zu haben und die Reflexion von Alternativen zu verhindern. Die Mantras zum anderen aktuellen Thema, dem Brexit, reizen zu folgenden Reflexionen:

Es heißt, ein Austritt Großbritanniens aus der EU würde immense negative wirtschaftliche Folgen haben. Aber keiner hat bisher substanziell erklärt, worin diese schrecklichen wirtschaftlichen Folgen lägen. Man darf doch davon ausgehen, dass nach einem EU-Austritt Großbritanniens weiter eine Freihandelszone besteht. Oder glaubt jemand, dass Handelsschranken eingeführt würden?

Anfang vom Ende: Tatsächlich?

Dass die Lobbies aus der City of London ihr Finanzcasino in Zukunft dann frei von EU-Regulierungen betreiben können, freut beide Seiten. Die Deutsche Börse startet gerade den hoffnungsfrohen Versuch, sich die Londoner Börse einzuverleiben und könnte dann am besten gleich nach London übersiedeln – und die EU könnte ihre Finanzmärkte ohne britische Interessenshegemonie regulieren.

Ein Brexit würde Europa außen- und sicherheitspolitisch schwächen, heißt es weiter. Die bisherige Absenz einer gemeinsamen Außen- und Militärpolitik dürfte ein Ausscheiden der Briten verschmerzbar machen. Britische Außenpolitik geht stets ihre eigenen Wege – meistens aber in engerer Abstimmung mit den USA als mit den EU-Partnern. Die Briten lehnen die Einbringung ihres Militärs in EU-Streitkräfte kategorisch ab. Wie soll daher ein Ausscheiden Großbritanniens die Möglichkeiten zu einer sicherheitspolitischen Vertiefung der EU beschädigen?

Noch ein Argument: Ein Brexit sei der Anfang vom Ende der EU! Das dümmste der drei Mantras! Wenn die Zukunft einer handlungsfähigen EU in der Entwicklung ihres außen- und sicherheitspolitischen Arms liegt, kann das Ausscheiden der Briten nur Hürden entfernen.

Täglich liest man in britischen Medien, dass die Brexit-Gegner behaupten, man müsse sich von möglichst vielen EU-Verpflichtungen befreien, aber im Klub verbleiben, um jede Form einer Vertiefung zu verhindern. In verblüffender Offenheit zeigt sich das traditionelle britische Selbstverständnis von „splendid isolation“, „balance of power policy“ und der Jahrhunderte von der Insel verfolgten Politik des „divide et impera“ gegenüber dem Kontinent. Warum soll das Ausscheiden dieses destruktiven Partners das Ende der EU bedeuten?

Unglückselige Dreifaltigkeit

Könnte ein Brexit nicht neue Wege in Richtung einer Vertiefung eröffnen? Ist dann vielleicht ein Schritt zurück auf ein Kerneuropa, das die Vertiefung wagt, möglich? Gelingt es dann, von der unglückseligen Dreifaltigkeit der Institutionen – Rat, Kommission und Parlament – wegzukommen und eine vom Parlament bestellte Regierung für Kerneuropa zu erreichen?

Von Europas Völkern wird sicher nur einer demokratisch legitimierten Regierung die zentrale Vertretungsmacht eines föderalen Staates eingeräumt werden. Derzeit darf die Kommission praktisch nur ungeliebte Richtlinien für oft dümmliche Vereinheitlichungen erlassen. Geht es aber zur Sache, spricht der Rat der Regierungschefs, und dort prallen nationalstaatliche Interessen aufeinander. Daraus kann keine beeindruckende Aktionskraft Europas erwachsen.

Aus der Not eine Tugend machend, gefallen sich viele Berufseuropäer darin, die eingeschränkte machtpolitische Realität als das gewollte Konzept einer „soft power“ ideologisch zu überhöhen. Wie weit man damit kommt, wird man bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise ja noch sehen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dipl.-Ing Hansjörg Tengg
(*1947 in Innsbruck) studierte Wirtschaftsingenieurwesen und Maschinenbau an der TU Graz. Führungspositionen in der Energiewirtschaft und der Papierindustrie, 1995/96 Insolvenzmanager des Konsum Österreich. 1999 gemeinsam mit Siemens Mitgründer des Unternehmens Smart Technologies. [ Bruckberger ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2016)

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