Soll Österreich der Visegrád-Gruppe beitreten?

Trüber Blick auf Mittelosteuropa bei der Bedienung von antideutschen Klischees.

Bei seiner Entrüstung über „hohes Sendungsbewusstsein“ – lies: Hegemonialansprüche Deutschlands – bedient sich Thomas R. Grischany in seinem „Presse“-Gastkommentar (4. März) nicht nur bekannter antideutscher Klischees, vielmehr fokussiert er auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte. Auch hier geht er freilich wenig originell, dafür aber umso zynischer vor.

Das „deutsche Sendungsbewusstsein“ lebe irgendwie fort, wenngleich es nicht mehr „rassisch“, sondern geschichtspolitisch legitimiert werde, nämlich durch totale Vergangenheitsbewältigung. Dieses Sendungsbewusstsein befehle den Deutschen, Flüchtlinge nach Europa zu holen und andere Europäer zu zwingen, dasselbe zu tun. Einzige Ausnahme bilde die „frühere DDR, wo der Schuldkomplex aufgrund der 45-jährigen Zugehörigkeit zum antifaschistischen Block nach wie vor wenig bis gar nicht ausgeprägt ist“. Ist das – etwa angesichts der Pegida-Bewegung – positiv zu bewerten?

Damit nicht genug. Grischany sucht nach Bestätigung ausgerechnet dort, wo man es als östlicher Nachbar Österreichs nicht erwarten würde. Mit Blick auf die vier Länder der Visegrád-Gruppe stellt er fest: „Denn selbst beim besten Willen können die anderen gar nicht wie Deutsche fühlen und handeln. Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken wollen keine Moslems aufnehmen? Was wissen diese ,Völkchen‘ denn von Schuld und Sühne?“

Slowakei und die Flüchtlinge

Man fragt sich, was Grischany selbst von diesen „Völkchen“ weiß. Sonst könnte er angesichts der jüngeren politischen Entwicklung in den genannten Ländern solche Fragen kaum stellen, es sei denn, er wäre mit dieser Entwicklung einverstanden. Ich beschränke mich auf das kleinste dieser „Völkchen“, die Slowakei, aus dem einfachen Grund, dass die Flüchtlingsdebatte hier monatelang den Wahlkampf dominierte, obwohl hierzulande bisher nur etwas mehr als 300 Flüchtlinge Asyl beantragten und – nur ein Bruchteil davon bekam positiven Bescheid.

Fico und Genossen schweigen

Dennoch versucht der sozialdemokratische (!) Premier Róbert Fico durch Beschwörung einer „Flüchtlingsgefahr“ die Aufmerksamkeit der Wähler von der katastrophalen Lage im slowakischen Justiz-, Gesundheits- und Schulwesen abzulenken. Da die zersplitterten oppositionellen Mitte-rechts-Parteien an einer Zusammenarbeit mit Ficos Smer wenig interessiert sind, wird er eventuell eine Koalition mit ausländer- und romafeindlichen Parteien schließen müssen.

Was das für die Region hieße, liegt auf der Hand: Nach Ungarn und Polen würde das dritte der vier Länder der Visegrád-Gruppe eine ausgesprochen europa- und deutschlandkritische Regierung bekommen (das vierte, Tschechien, hat bis jetzt „nur“ einen solchen Staatspräsidenten).

Wie hängt diese Tendenz mit Vergangenheitsbewältigung zusammen? Die Antwort ist einfach: Bei Smer und den nationalistischen Parteien gibt es keine. Fico und Gesinnungsgenossen schweigen über den Beitrag der slowakischen Politiker und der Bevölkerung zur „Endlösung der Judenfrage“ während des Zweiten Weltkriegs, genauso wie über die Verbrechen des Stalinismus. Der „Führer“ der neofaschistisch angehauchten Volkspartei – Unsere Slowakei, Marián Kotleba, verherrlicht das Regime des NS-Satelliten Slowakei sogar offen; seine Partei zog mit acht Prozent erstmals ins Parlament ein.

Soll also Österreich dieser Visegrád-Gruppe zumindest mental beitreten? Thomas R. Grischany hat es wohl nicht so gemeint. Aber wie denn sonst?

Dr. Miloslav Szabó forscht am Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften in Bratislava.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2016)

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