Rückkehr zur Realität

. Angela Merkel hat gewiss eine großartige humanitäre Gesinnung. Aber zuletzt hat sie auch ihre Bodenhaftung verloren.

Zu sagen, Angela Merkel sei nur „angekratzt“, und sich damit abzufinden, dass die Verluste der CDU sowie das explosionsartige Heranwachsen einer Protestpartei am rechten Flügel einem Trend der Zeit entspreche, wäre eine Verleugnung der realen politischen Zustände.

Es ist vorbildhaft, wenn eine Politikerin eine Vision hat, diese konsequent verfolgt und mit ganzem Einsatz dafür Überzeugungsarbeit leistet. Es ist aber ebenso wichtig, nicht nur stur ein Ziel anzustreben, sondern auch bereit zu sein, sich mit vernünftigen Einwänden auseinanderzusetzen und vielleicht sogar die eine oder andere Korrektur vorzunehmen.

Die humanitäre Gesinnung der deutschen Kanzlerin stellt ihr ein großartiges moralisches Zeugnis aus. Sie hat aber aus einer gewissen Selbstherrlichkeit (dazu trägt auch der Applaus bei, der ihr von linken und grünen Politikern gezollt wird) übersehen, dass man gewisse Realitäten zur Kenntnis nehmen muss; dass man den Bürgern nicht alles zumuten und in der EU nicht alles dekretieren kann.

Europa stellt sieben Prozent der Weltbevölkerung, trägt 25 Prozent der Wirtschafts- und 50 Prozent der Sozialleistungen. Keine Frage, so ein Kontinent hat die Wirkung eines Magneten. Aber auch dieser Kontinent hat enden wollende Kapazitäten – umso mehr, als es hier Länder gibt, die noch weit weg von durchschnittlichen europäischen Standards sind.

Überforderter Sozialstaat

Was sind die Fakten? Nur etwa 40 Prozent der Ankommenden sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Immer mehr Menschen wollen bloß in Länder auswandern, von denen man hört, dass es dort sogar Geld gibt, wenn man keine Arbeit findet. Die nächste Welle könnte schon jene der Klimaflüchtlinge sein.

Aber eines ist wohl unbestritten: Ein Sozialstaat mit offenen Grenzen wird auf die Dauer überfordert sein. Im vergangenen Herbst, als der große Schub von Flüchtlingen über Griechenland in Richtung Mitteleuropa strömte, gab es eine Welle der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Statt „grenzenlos“ zu proklamieren, hätte man schon damals beginnen müssen, gezielte Lenkungsmaßnahmen zu setzen. Denn schon damals war auch klar, dass Deutschland und Österreich nicht allein Zufluchtsorte sein können.

Merkel hat ein etwas hierarchisches Denken. Für sie sind in erster Linie Regierungschefs die Gesprächspartner. Daher pflegte sie in Bezug auf Österreich nur Kontakt zu Bundeskanzler Werner Faymann. Der apportierte ihre Meinung und vermittelte den Eindruck, ein Brückenbauer ins sozialdemokratische Lager zu sein. Nach Faymanns Salto rückwärts ist Merkel schwer enttäuscht. Sie wäre gut beraten gewesen, schon früher auf die Ebene der Parteifreunde herabzusteigen, mit der Volkspartei eine Gesprächsbasis zu suchen, um andere Meinungen einzuholen.

Das wäre übrigens für beide Seiten befruchtend gewesen. Denn das Heranwachsen starker rechtspopulistischer Gruppen – das gilt für die AfD ebenso wie für die FPÖ – hat seinen Grund nicht nur im Streit um die Flüchtlingspolitik. Es hat seinen Grund auch darin, dass die Volksparteien ihre christlich-sozialen Wurzeln verkümmern ließen und es verabsäumt haben, das bürgerlich-konservative Lager anzusprechen und zu bedienen.

Mag. Herbert Vytiska (* 1944) war 15 Jahre lang Sprecher des früheren ÖVP-Chefs Alois Mock. Heute ist er Politikberater in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2016)

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