Gemeinwohl und fehlende Konsequenz

Die neue Enzyklika, „Caritas in veritate“, wird überschwänglich gelobt. Es ist hoch an der Zeit für eine differenziertere Betrachtungsweise.

Im Jahre 1964 erklärte ein junger deutscher Theologieprofessor, dass es in der katholischen Soziallehre mit ihrer Berufung auf das Naturrecht „auch so etwas wie ideologische Momente“ gebe. Er verwies auf geschichtlich bedingte kirchliche Ordnungsvorstellungen, die unter der Hand für natürlich und normativ erklärt würden, es in Wahrheit aber gar nicht seien. Der Theologieprofessor hieß Joseph Ratzinger. Zu den ideologischen Momenten der katholischen Soziallehre gehörten etwa gewisse Elemente des Gemeinwohlkonzepts. Ihnen zufolge wurde die Gesellschaft als hierarchisch aufgebauter Organismus interpretiert, in den sich der Einzelne an der ihm zustehenden Stelle ein- und unterzuordnen habe. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde als Angriff auf das vorgegebene Gemeinwohl verstanden und streng verurteilt.

Umverteilung des Reichtums

Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) hat sich eine dynamische Sicht des Gemeinwohls durchgesetzt: Das Gemeinwohl schließt nun Gleichheit, Gerechtigkeit und eine „vorrangige Option für die Armen“ ein, die die Kirche verpflichten, in den gesellschaftlichen Interessenskonflikten Partei für die Ausgegrenzten und Unterdrückten zu ergreifen. In jüngster Zeit etablierte sich der Gemeinwohlbegriff als beliebte Vokabel der politischen Linken, zumal in den USA. Dort schlossen sich sozial engagierte katholische Organisationen und Einzelpersonen im Juli vergangenen Jahres zu einem Gemeinwohl-Bündnis zusammen, das sich für Armutsbekämpfung und Arbeiterrechte, für eine menschengerechte Einwanderungspolitik und ein rasches Ende des Irakkrieges einsetzt. Die Gemeinwohl-Christen sehen Benedikt XVI. als einen der ihren an, besonders seit der Veröffentlichung von „Caritas in veritate“. In seiner ersten Sozialenzyklika hebt der Papst nämlich zwei Prinzipien der katholischen Soziallehre hervor, „die speziell beim Einsatz für die Entwicklung einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung erforderlich sind: die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl“ (Nr. 6).

Um dem Gemeinwohl und der Gerechtigkeit weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, fordert Benedikt XVI. die Umverteilung des Reichtums, die Beseitigung des Hungers, den Abbau der Arbeitslosigkeit, die Überprüfung des konsumorientierten Lebensstils, ein verändertes Verständnis des Unternehmens und eine Neuordnung des Finanzwesens. Er tritt für die Suche nach alternativen Energieformen ein, für eine Entwicklungshilfe ohne ausbeuterische Hintergedanken und für eine politische Weltautorität, die auf die Verwirklichung des globalen Gemeinwohls hingeordnet ist.

Mit diesen Forderungen greift Papst Benedikt explizit auf die Sozialverkündigung seiner Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II. zurück, er aktualisiert und ergänzt sie im Kontext der Globalisierung und der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Diese Leistung ist hoch anzuerkennen. Der Text des päpstlichen Rundschreibens ist allerdings eine beschwerliche Lektüre. Die Gedankengänge sind verschlungen, die Argumentationsweise manchmal diffus. Der Versuch, sozialethische Aussagen theologisch zu ergänzen und zu vertiefen, erfolgt in einer mühsamen päpstlichen Rhetorik, die nur von jenen Menschen zu begreifen ist, die zumindest einen theologischen Fernkurs absolviert haben. Extrem hart ging einer der führenden Sozialethiker des deutschen Sprachraums, der Frankfurter Jesuit Friedhelm Hengsbach, mit den diesbezüglichen Defiziten der Enzyklika ins Gericht: „Ich habe den Eindruck, dass sehr viele Autoren an diesem Papier gearbeitet haben, sodass das formal gesehen ... ein ziemliches Schrottpapier ist.“

Nicht die formalen Mängel sind jedoch das Hauptproblem dieser Enzyklika, sondern die Tatsache, dass die Selbstverpflichtung, all das kirchlicherseits vorbildhaft zu verwirklichen, was man von der übrigen Welt fordert, mit keinem Wort erwähnt wird. Im Schlussdokument der Römischen Bischofssynode von 1971, „De justitia in mundo“, wird diese Haltung jedoch unmissverständlich verlangt: „Wer immer sich anmaßt, zu den Menschen von Gerechtigkeit zu reden, muss an allererster Stelle vor ihren Augen gerecht dastehen“ (Nr. 41). Die Bischöfe verpflichten sich, ihren Besitz zu überprüfen und ihr Gewissen zu erforschen, „ob der eigene Lebensstil das Vorbild jenes Konsumverzichtes ist, den wir anderen predigen und der notwendig ist, um vielen Millionen Hungernden auf der ganzen Welt zu essen zu geben“ (Nr. 49).

Selbstverpflichtung gefragt

Bei aller von Benedikt XVI. ausgedrückten hohen Wertschätzung für Paul VI.: Die kirchenkritischen Anfragen des Synodendokuments „De justitia in mundo“, das auf Bitte Pauls VI. hin erarbeitet und mit seiner Zustimmung veröffentlicht wurde, findet in Benedikts „Caritas in veritate“ keine Erwähnung. Solange die Kirche sich zu dieser Selbstverpflichtung aber nicht immer wieder ausdrücklich bekennt und konsequent nach ihr lebt, bleibt der eingangs zitierte Vorwurf des Professor Ratzinger, in der katholischen Soziallehre gebe es ideologische Momente, zu Recht bestehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.