Klagen über Österreich: "Die Reserven schwinden"

Aufbruch - wohin? Bürger haben die Wahl zwischen dem rot-blauen Volksheim/Volksgenossen-System und einem bürgerlichen Modell.

Das Land wirkt erschöpft. Von oben zu wenig Inspiration und Wagemut, von unten zu viel Verdrossenheit und Verunsicherung. Noch zehrt das Land vom Früher, doch die Reserven schwinden. Seine Anziehungskraft als Standort apert. In den Statistiken spiegelt sich der Substanzverlust.“ Es wird außer eingefleischten Propagandisten in Gewerkschaft und Arbeiterkammer kaum jemanden in Österreich geben, der das nicht so sieht.

Die Sätze stammen vom Chefredakteur der „Kleinen Zeitung“, der damit kürzlich eine Serie von Beiträgen einleitete, in denen „66 Persönlichkeiten gegen den politischen Stillstand in Österreich“ anzuschreiben versuchen. Auch „Die Presse“ und befreundete Bundesländerzeitungen haben die Texte unter dem Generaltitel „Aufbruch“ veröffentlicht. Die Aktion hatte etwas verzweifelt Vergebliches.

Wir sind zurückverwiesen an die Politik und ihre Mechanismen. Kaum einer kennt sie so gut wie ein Banker (er war nicht unter den 66), mit dem wir geredet haben. Er hat eine teilweise sozialdemokratische Geschichte und war sowohl in der Politik wie auch lange Zeit in der Wirtschaft tätig.

Die Ursache für die österreichische Malaise sieht er in den „archaisch einfachen Prämissen der Zweiten Republik“. Er nennt es „Sicherheitsregime“. Es ist ein System der hohen Steuern und hohen Staatsausgaben, „eines überbordenden Sozialstaats, eines überbordenden Agrarsystems, eines überbordenden Kammerstaates“, das die Menschen von sich abhängig gemacht habe. „Für den einen gab's eine Wohnung, eine Konzession für den anderen.“ Von Anfang an sei das so gewesen, urteilt der Banker. Er unterscheidet ein „exponiertes Österreich“ und ein „pragmatisiertes Österreich“. Aus Letzterem rekrutierten sich die politischen Kader. „Nur die Erfolge des exponierten Österreich halten Österreich aufrecht.“

Die meisten Politiker wüssten überhaupt nicht, was ein Unternehmen sei. „Werner Faymann etwa glaubt, dass es den Arbeitnehmern gut geht, wenn es den Unternehmern schlecht geht. Der SPÖ geht es immer nur um Verteilungsgerechtigkeit, sie tut so, als ob der Sozialstaat in Gefahr wäre.“ Wenn von Verteilungsgerechtigkeit die Rede sei, müsse man aber fragen, wo die Leistungsgerechtigkeit geblieben sei.

Natürlich bieten sich Vergleiche mit anderen Ländern an. Unter den 66 hat der Chef von Nestlé, ein geborener Österreicher, die Schweiz als Vorbild. Österreich habe den Anschluss unter anderem deshalb verloren, weil sein Föderalismus ein „Bremsklotz“ sei, während der schweizerische zu einer Wettbewerbssituation geführt habe. Unser Banker vergleicht die Steuersysteme: Es gebe Steuerstaaten und Schuldenstaaten auf der Welt. Japan etwa habe zwar eine enorme Staatsverschuldung von 200 Prozent des BIPs, aber niedrige Steuern, dasselbe gelte für Irland. „Österreich dagegen hat beides: Es ist einer der führenden Steuerstaaten und auch bei den Staaten mit den höchsten Schulden dabei.“

Schröders Agenda 2010

Aufschlussreich ist auch ein historischer Vergleich. Ziemlich zur selben Zeit, als in Österreich durch die schwarz-blaue Regierung ein Reformschub stattfand, machte in Deutschland eine linksgrüne Regierung in etwa dasselbe. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Auftakt für seine Agenda 2010.

Auch wenn sich die Arbeitsmarktreformen unter dem Stichwort „Hartz IV“ am stärksten ins Gedächtnis geprägt haben, war die Agenda 2010 ein viel breiter angelegter Reformkatalog. Sie fasste alle Maßnahmen und Pläne zu einem Programm zusammen – von Steuersenkungen über Gesundheits- und Rentenreform, Lockerung des Kündigungsschutzes und Bürokratieabbau bis zu einer Flexibilisierung der starren Tarifverträge.

Nicht alles daran war so erfolgreich wie erhofft. Schröder gab auch das Startsignal zur Aufweichung des Euro-Stabilitätspakts, die er dann gemeinsam mit Frankreich durchsetzte. Das wurde später von anderen Ländern als Freibrief für eine dauernde Verschuldungspolitik genommen. Angela Merkel kann sich ihre Politik (von der fehlgeleiteten „Energiewende“ bis zu Mindestlohn und Rente mit 63) überhaupt nur leisten, weil Deutschland durch die Agenda 2010 so erfolgreich geworden ist.

Engagement der Bürger

So weit die – ernüchternde – Diagnose. Wo aber ist das Rettende? Manche glauben an die bisweilen mythisch verklärte „Zivilgesellschaft“. Selbstverständlich ist das Engagement der Bürger (deshalb wäre der Ausdruck „Bürgergesellschaft“ besser) für das Funktionieren einer modernen freiheitlichen Demokratie unersetzlich, die bekanntlich von kulturellen und ethischen Voraussetzungen lebt. Aber auch die Zivilgesellschaft ist von der großzügigst alimentierten Feuerwehr bis zu den Hilfs-NGOs Teil des pragmatisierten Österreich.

Es herrscht ein Paradox: Dieselben, die jeden Tag über die Lähmung des Landes durch die Große Koalition lamentieren, halten sie dennoch für alternativlos. Die anderen sich anbietenden Optionen schließen sie kategorisch aus, denn es dürfe keinen „Pakt mit rechts“ geben. Diese Ausgrenzung gilt allerdings nur für die Bürgerlichen.

Es gibt wenig Zweifel darüber, dass die SPÖ eine Koalition mit der FPÖ nach der Wahl 2017 jedenfalls als eine Option ins Auge fasst. Die Schlüsselrolle dabei nimmt Hans Peter Doskozil ein.

Der Gegenentwurf zur rot-blauen Volksheim/Volksgenossen-Welt wäre ein „bürgerlicher“. Die einzige Partei, die das Epitheton „bürgerlich“ noch einigermaßen verdient, ist die ÖVP. Traut sie sich, für eine bürgerliche Wende einzutreten und sie in ihrer alltäglichen Politik zu verwirklichen? Hat sie eine Alternative zum allgütigen, bevormundenden Wohlfahrts- und Verteilungsstaat anzubieten, der Anhänger ja auch weit hinein in die eigenen Reihen hat?

Als bürgerlich darf man Leute bezeichnen, die Verantwortung für sich und andere übernehmen und sie nicht dem Staat übertragen wollen, denen eigene Bildung und die ihrer Kinder etwas bedeutet und die dafür auch Opfer zu bringen bereit sind. In diesem Sinne sind auch ein Arbeiter oder Handwerker und überhaupt alle Leute, die lieber von ihrer eigenen Arbeit leben, als sich vom Staat erhalten zu lassen, bürgerlich.

Es braucht Persönlichkeiten

Ein wichtiger Aspekt des Bürgerlichen wäre es, eine aufgeklärte Staatsgesinnung einzuüben. Wenn nämlich Recht und Gesetzlichkeit permanent gegen Humanität oder eine angebliche Gerechtigkeit ausgespielt werden, gerät beides in Gefahr. In der aktuellen Migrationskrise wird das schon deutlich sichtbar.

Die Politik wird letztendlich von Persönlichkeiten weitergebracht, die etwas wollen, einen Kompass haben und den Willen und Mut zu entscheiden. Gerhard Schröder ist schon genannt worden, Wolfgang Schüssel war ein weiterer solcher Typ. Beide haben in fast demselben Zeitfenster regiert, obwohl kaum zwei Politiker gefunden werden, die so verschieden sind.

Die entscheidende Frage wird sein, ob es in Parteien und ihrem Vorfeld wieder Biotope gibt, in denen solche Typen heranwachsen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2016)

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