Nazis mit einem freundlichen Gesicht?

Die scheinbar positiven und die negativen Züge des Hitler-Regimes sind nicht voneinander zu trennen – sie verschmelzen wie die beiden Gesichter eines Januskopfes. Das sollten auch Wahlwerbende ums Präsidentenamt wissen.

Irmgard Griss, Kandidatin bei der Bundespräsidentenwahl, ließ unlängst im „Falter“ mit einer Äußerung zum Nationalsozialismus aufhorchen: „Es war nicht so, dass die Nazis von Anfang an nur ein böses Gesicht gezeigt hätten.“ Anders gesagt, der Nationalsozialismus zeigte anfangs auch freundliche Gesichtszüge.

Dem wurde entgegengehalten: Diese Äußerung folge der Sicht der (Mit-)Tätergesellschaft und blende die Perspektive der Opfer des NS-Regimes, vor allem der verfolgten Juden, aus. Darauf angesprochen, wollte Griss diesen Sager als Warnung verstehen: „Die Menschen wurden verführt.“

Dieses Geplänkel am Rande des Wahlkampfs weist mitten in den Diskurs um das „österreichische Gedächtnis“. Griss wirbt – wohl nicht ohne Kalkül – um Verständnis für die Verführten, die anfänglich dem freundlichen Gesicht der Nazis erlegen seien.

Wende im Gedächtnisdiskurs

Die Gegenstimmen mahnen Verständnis für die Verfolgten ein, die sofort deren böses Gesicht zu spüren bekamen. Beide Parteien ringen um den Platz von Verführten und Verfolgten im Gedächtnisdiskurs, der in den 1980er-Jahren eine entscheidende Wende nahm.

Nach der Befreiung vom NS-Regime herrschte die staatsoffizielle Opferdoktrin, die innen- und außenpolitischen Motiven folgte. Demgemäß erschien Österreich als Opfer eines fremden Regimes mit bösem Antlitz. Die damit verbundene Täter-Opfer-Umkehr platzierte die Mehrheit als Verführte im Zentrum der imaginierten Opfergemeinschaft.

Zugleich wurden verfolgte Minderheiten ohne gesellschaftlichen Rückhalt an den Rand gedrängt. In den weniger offiziellen Winkeln der Alltagskommunikation wirkten freilich auch die scheinbar freundlichen Züge des Nationalsozialismus – Wirtschaftsaufschwung, Sozialpolitik, Kameradschaftsgeist – fort.

Befeuert durch die Waldheim-Affäre ab 1986 verlor der Opfermythos an Akzeptanz und wurde schließlich von den Staatsspitzen zu Grabe getragen. Die Aufmerksamkeit schwenkte zur (Mit-)Täterschaft von Österreichern an der NS-Herrschaft. Der Nationalsozialismus wurde nach seiner Externalisierung internalisiert, gleichsam im Buch der österreichischen Geschichte nachgetragen.

Dieser Kurswechsel drängte die Verführten wegen des nunmehrigen Verdachts (in-)direkter (Mit-)Täterschaft an der Verfolgung aus der Opfergemeinschaft. Dafür wurden bisher randständige Gruppen Verfolgter, etwa Roma und Sinti, einbezogen.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Geplänkel um den Griss-Sager als ein Machtkampf um die Gedächtnishoheit: Beschränkt sich der Opferstatus auf die Verfolgten? Oder können ihn auch die nun der (Mit-)Täterschaft verdächtigten Verführten beanspruchen?

Weststeirische Erzählungen

Während die Gegenstimmen Ersteres bejahen, votiert Griss für Letzteres: Die freundlichen Gesichtszüge des Hitler-Regimes hätten Teile der Bevölkerung verführt – und darüber zu Opfern gemacht. Auffällig an Griss' Aussage ist weniger die personalisierende Gesichtsmetapher, sondern vielmehr die anschließende Belegerzählung. Anstatt des üblichen Verweises auf die Schaffung von Arbeit – Stichwort „ordentliche Beschäftigungspolitik“ – geht es um deren technischen Ersatz: „Nehmen Sie die Bauern: Die hatten es plötzlich viel besser, weil sie sich neue Maschinen leisten konnten. Unser Nachbar hat sich unter den Nazis die erste Dreschmaschine gekauft, das war ein riesiger Fortschritt.“

Damit wird Griss zur Sprecherin der derart verführten Landbevölkerung mit explizitem Anspruch auf Aufnahme in die Opfergemeinschaft. Implizit deutet sie aber auch deren Nutznießerschaft – und zumindest indirekte (Mit-)Täterschaft – an. Die 1946 Geborene hat die NS-Zeit nicht selbst erlebt. Ihr Bild davon speist sich aus Erzählungen ihres ländlichen Umfeldes in der Weststeiermark in der Nachkriegszeit. Die tägliche Handarbeit am Bauernhof war anstrengend, was dem jungen Mädchen den Lehrerberuf erstrebenswert machte.

Demgemäß wertet Griss in Übereinstimmung mit ihrem Herkunftsmilieu die Agrarmodernisierung, die beim Anschluss einsetzte und in ihrer Kindheit und Jugend zum Durchbruch kam, als Fortschritt auf dem Weg zur Wohlstandsgesellschaft. Gemäß der damaligen Opferdoktrin kontrastiert sie „die Nazis“ und „die Leute“, als ob es sich bei Ersteren um eine von Letzteren klar abgehobene Machtclique handle.

Ambivalente Modernisierung

Griss' politisch zwar negativ (als Verführung), wirtschaftlich aber positiv (als Fortschritt) bewertete Erzählung der nationalsozialistischen Modernisierung auf dem Land ist vom Alltagshorizont der Wirtschaftswundergeneration geprägt. Zugleich scheint sie auch auf dieses bedeutende Wählersegment zugeschnitten. Ob habitualisiert oder kalkuliert – jedenfalls zeigt sich dieses holzschnittartige Geschichtsbild ziemlich unbeeindruckt von der um Differenzierung bemühten Geschichtsschreibung. Seit dem „Bedenkjahr“ 1988 zeigen Publikationen vor allem jüngerer Forscher und Forscherinnen die Ambivalenz der (Agrar-)Modernisierung in der nationalsozialistischen Diktatur.

Vision der „Volksgemeinschaft“

Die Agrarmodernisierung in Hitlers Österreich war nicht als bloße Verführung angelegt, sondern suchte das Entwicklungsprojekt des „völkischen Produktivismus“ ins Werk zu setzen. Das produktivistische Moment – etwa die Landmaschinen, die das Regime als Ersatz der in Rüstung und Militär eingesetzten Arbeitskräfte für die „Erzeugungsschlacht“ mobilisierte – war eng verflochten mit dem völkischen Moment: Bauern galten in der Propaganda als „Blutsquell und Ernährer des Volkes“, sie beanspruchten Landparzellen aus enteigneten „Judengütern“, sie verfügten über rechtlose und billige „Fremdarbeiter“ aus dem Osten.

Der „völkische Produktivismus“ suchte die Vision der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ auf dem Land zu realisieren: Einschluss der wirtschaftlich und „rassisch“ Leistungsfähigen, Ausschluss der „Gemeinschaftsfremden“.

Die scheinbar positiven und die negativen Züge des Hitler-Regimes sind nicht voneinander zu trennen; sie verschmelzen wie die beiden Gesichter eines Januskopfes. Diese Erkenntnis der Geschichtsschreibung sickert nur langsam in die Poren des gesellschaftlichen Gedächtnisses ein.

Die forschungsgeleitete Reflexion populärer Geschichtsbilder bedarf ständiger Vermittlung durch Wissenschaft, Medien und Schule. Von Wahlwerbenden um die Bundespräsidentschaft wäre zu erwarten, den Österreichern einige Schritte in Richtung Geschichtsreflexion voranzugehen. Wer vom technischen Fortschritt als dem freundlichen Gesicht der Nazis spricht, kann von den übrigen Gesichtszügen der janusköpfigen Moderne im Zeichen des Hakenkreuzes nicht schweigen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Ernst Langthaler
(geboren 1965 in St. Pölten) ist derzeit Leiter des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten und tritt demnächst die Universitätsprofessur für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Uni Linz an. Sein neues Buch zum Kommentarthema: „Schlachtfelder – Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945“ (Böhlau Verlag). [ André Luif ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2016)

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