Belangloses Nein: Integrationszug der EU ist längst weiter

EU-Abkommen mit Kiew ist trotz Nein der Niederländer vorläufig in Kraft.

Als sich Anfang April die niederländische Bevölkerung gegen die Ratifizierung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens aussprach, ging für kurze Zeit ein wohliger Schauder durch die Reihen der Brüssel-Gegner. Ein Volk hatte gesprochen: Die Mehrheit eines Drittels der Bevölkerung; in einem rechtlich gar nicht bindenden Referendum. Trotzdem wurde umgehend von einem schweren Schlag für das Projekt Europa, ja gar vom Anfang vom Ende Brüssels geredet.

Mit ein paar Tagen Abstand macht sich Ernüchterung breit. Das Abkommen gilt längst. Daran ändern auch ein paar zornige Bürger in den Niederlanden überhaupt nichts. 27 der 28 EU-Mitgliedstaaten haben das Abkommen längst ratifiziert. Ob die Niederlande jetzt ihr nationales Verfahren abschließen, ist allenfalls für künftige Völkerrechtslehrbücher interessant. Europarechtlich ist die Geschichte nämlich längst gegessen.

Die politischen Vorschriften – etwa Zusammenarbeit bei der Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Terrorbekämpfung – werden bereits seit 2014 vorläufig angewendet. Der letzte große Brocken, die wirtschaftlichen Bestimmungen – also im Kern ein Freihandelsabkommen mit der Ukraine –, trat am 1. Jänner 2016 in Kraft. Wiederum vorläufig. Und das nicht einmal als Besonderheit.

Keine böse Weltverschwörung

Das hat vielmehr auch praktische Gründe. Und man muss nicht immer und sofort dahinter eine böse Weltverschwörung von Brüsseler Kreisen vermuten. Wenn ein Abkommen nur dann ich Kraft treten würde, wenn auch noch die letzte Vertragspartei ihr staatliches Verfahren zur Ratifizierung abgeschlossen hätte, dann gäbe es kaum internationale Abkommen.

Abgesehen davon, dass natürlich der letzte, fehlende Staat über enormes Erpressungspotenzial verfügen würde; er könnte nachträglich versuchen, etwas für sich herauszuschlagen. In guter abschreckender Erinnerung bleibt hier etwa der tschechische Präsident Václav Klaus, der einmal kurzerhand die Unterschrift unter den EU-Reformvertrag verweigerte.

Provisorische Anwendung

Das Europarecht kennt zu Recht die Möglichkeit der vorläufigen Inkraftsetzung von Abkommen mit Drittstaaten. Die Entscheidung dafür trifft der EU-Ministerrat einstimmig; sogar die Zustimmung des Europaparlaments wird dabei eingeholt – obwohl rechtlich nicht notwendig. Im Fall des Ukraine-Abkommens heißt das also: Alle Regierungen aller Mitgliedstaaten und das Europaparlament waren für die vorgezogene Inkraftsetzung des Abkommens.

Rückgängig machen lässt sich so ein Beschluss übrigens nur noch in der Theorie: Es müssten wieder alle 28 EU-Mitglieder geschlossen für eine Beendigung stimmen.

Dass damit der Ratifizierungsprozess im jeweiligen nationalen Parlament zur rechtlichen Nebensächlichkeit verkommt, darüber wird nicht gern geredet. In dem Lichte sind etwa auch aktuelle Ankündigungen der Bewerber ums Amt des Bundespräsidenten unter europarechtlicher Belanglosigkeit abzulegen: Wer da künftig die Unterschrift zur Ratifizierung von TTIP verweigern will, ist realpolitisch vollkommen uninteressant.

Völkerrechtliche Verträge können theoretisch für immer vorläufig angewendet werden. Im Fall der EU werden aktuell immerhin beachtliche 198 Abkommen „provisorisch“ angewendet. Irgendwo fehlt immer ein abgeschlossener Ratifizierungsprozess. Einige dieser Abkommen sind bereits seit über zehn Jahren auf diese Art und Weise vorab schon mal in Kraft gesetzt.

Im schlimmsten Fall bleibt das Ukraine-Abkommen also auf alle Ewigkeit vorläufig in Kraft.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und Internationale Beziehungen.
Er lehrt an der Universität Salzburg.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 22.04.2016)

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