Wird Österreich zu einem Führerstaat?

Einige verfassungsrechtliche Überlegungen anlässlich der heurigen Bundespräsidentenwahl: Was, wenn ein neuer Bundespräsident mit bisherigen Usancen bricht und die freiwillige Selbstbeschränkung seines Amtes beendet?

Der österreichische Bundespräsident kann gemäß Art. 70 B-VG (Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929) den Bundeskanzler und/oder die gesamte Regierung entlassen. Er kann dies jederzeit und nach eigenem Gutdünken tun, ohne jemanden fragen zu müssen oder auf den Vorschlag eines anderen Staatsorgans angewiesen zu sein.

Auf Vorschlag einer von ihm nach eigenem Ermessen ernannten und mit einem entsprechenden Auftrag ausgestatteten (neuen) Regierung kann er in weiterer Folge gemäß Art. 29 B-VG sogar den Nationalrat auflösen, was zwingend Neuwahlen zur Folge hätte. Bei diesen Neuwahlen können sich die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat durchaus im Sinne einer vom Bundespräsidenten präferierten Parteienkonstellation verschieben, sodass dem Präsidenten danach eine willfährige Regierung gegenübersteht.

Rolle eines „Staatsnotars“

Dass diese Befugnisse von den Bundespräsidenten in der Nachkriegszeit nicht ausgeübt wurden, hängt vor allem mit der politischen Landschaft Österreichs zusammen. De facto teilen sich ÖVP und SPÖ die Macht seit 1945. Hatten die beiden Parteien bis vor einigen Jahren zusammen aber noch rund 90 Prozent oder zumindest eine satte Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, kommen sie heute gemeinsam kaum noch auf 50 Prozent. Die Bundespräsidenten wiederum kamen bisher stets aus dem Lager einer der beiden Großparteien.

Ein von einer dieser beiden Parteien nominierter Bundespräsident hatte naturgemäß keine Veranlassung, mithilfe seines Entlassungs- bzw. Auflösungsrechtes in die Befugnisse der Regierung und/oder des Nationalrates einzugreifen. Gehörten der Bundespräsident und der Bundeskanzler der gleichen Partei an, bestand ohnehin kein Anlass zur Konfrontation auf Verfassungsebene.

Gehörten die Präsidenten der jeweils anderen Großpartei an, dann mussten sie bei Ausübung ihrer diesbezüglichen Befugnisse damit rechnen, dass der nächste Bundespräsident, der dann möglicherweise wieder der anderen Partei angehörte, dies – quasi als Revanche – ebenfalls tun würde. Die Exponenten der beiden Großparteien hielten sich daher an einen stillschweigenden „Nichtangriffspakt“ und beschränkten sich auf die Rolle des „Staatsnotars“.

Ein unabhängiger oder einer dritten Partei zugehöriger Bundespräsident hätte jedoch keinen Grund, sich in der Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte zu beschränken. Die Rücksichtnahme auf den langfristigen Machterhalt der beiden (ehemaligen) Großparteien ÖVP und SPÖ würde in seinen Überlegungen keine Rolle spielen.

Insofern wäre die Entlassung der Bundesregierung und/oder die Auflösung des Nationalrats durch einen solchen Bundespräsidenten keine bloß theoretische Möglichkeit mehr, sondern ein durchaus realistisches Szenario.

Androhung der Entlassung

Was bedeutet dies aber für die Innen- und Außenpolitik unseres Landes? Natürlich muss es bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen Bundespräsidenten und Bundeskanzler/Regierung nicht zwangsläufig zu deren Entlassung kommen. Viel wahrscheinlicher wäre der Fall, dass die Regierung, vom Bundespräsidenten vor die Wahl gestellt, eine von ihm vorgegebene „Richtlinie“ zu befolgen oder abzutreten, schon aus Rücksicht auf den eigenen Machterhalt einlenken und sich dem Wunsch des Bundespräsidenten fügen würde. Damit gewinnt der Bundespräsident aber eine nicht nur für österreichische Verhältnisse geradezu unglaubliche Machtfülle.

Er kann die Vollziehung nach eigenem Gutdünken lenken und kontrollieren und seinen Willen – notfalls durch Androhung der Entlassung – auch gegen den Willen der Bundesregierung durchsetzen. Bei aller gebotenen Zurückhaltung in der Wortwahl erinnert ein solches Szenario tatsächlich an die diktatorischen Machtstrukturen eines Führerstaates.

Das österreichische Staatsoberhaupt wäre so gesehen sogar mächtiger als der Präsident der USA. Während diesem nämlich gemäß dem System der Checks and Balances ein von der Regierung unabhängiger Kongress gegenübersteht, werden in Österreich die Gesetze de facto ebenfalls von der Regierung „gemacht“. Die weitaus überwiegende Mehrzahl aller Gesetzesentwürfe stammt aus den einzelnen Fachministerien und nicht etwa aus dem Parlament beziehungsweise von den dafür laut Verfassung eigentlich zuständigen Nationalratsabgeordneten.

Beinharter Klubzwang

Der Beschluss im Ministerrat, einen bestimmten Gesetzesentwurf ins Parlament zu schicken, bedeutet in der Praxis, dass die tatsächliche Gesetzwerdung nur mehr eine Frage der Zeit ist. Verfügt die jeweilige Regierung über eine Mehrheit im Parlament, dann ist die entsprechende Beschlussfassung im Nationalrat und im Bundesrat aufgrund des zwar ungeschriebenen, in der sogenannten österreichischen Realverfassung aber existenten und von den jeweiligen Klubobleuten in der Regel beinhart exekutierten „Klubzwangs“ nur noch Formsache.

Infolge dieser verfassungswidrigen Praxis entscheiden nämlich nicht die einzelnen, demokratisch gewählten Abgeordneten nach bestem Wissen und Gewissen, sondern deren Parteien nach parteipolitischen Erwägungen über das Abstimmungsverhalten der einzelnen Parlamentarier – ein glatter Widerspruch zu dem in Artikel 56 B-VG verankerten freien Mandat.

Einfluss auf Gesetzgebung

Es zeigt sich somit, dass unsere demokratische, der Gewaltentrennung verpflichtete Verfassung bisher nur deshalb funktioniert hat, weil die Bundespräsidenten ihre verfassungsmäßigen Befugnisse nicht ausgeübt haben. Würden sie dies nämlich tun, dann könnten sie aufgrund ihrer auf Artikel 70 B-VG (Entlassung der Regierung) und Artikel 29 B-VG (Auflösung des Nationalrats) beruhenden „faktischen Richtlinienkompetenz“ sowohl auf die Vollziehung als auch auf die Gesetzgebung unmittelbar Einfluss nehmen, zumal die mit der Entlassung der Regierung bedrohte(n) Mehrheitspartei(en) mithilfe des Klubzwangs im Regelfall dafür sorgen würde(n), dass die Wünsche des Bundespräsidenten auch im Bereich der Gesetzgebung umgesetzt werden.

Bricht nun ein neuer Bundespräsident mit diesen Usancen und beendet die freiwillige Selbstbeschränkung, wie dies im laufenden Wahlkampf von einigen Kandidaten angekündigt worden ist, müsste dem freien Mandat als dem von der Verfassung vorgesehenen Gegengewicht zur großen Machtkonzentration zum Durchbruch verholfen werden – und zwar durch Abschaffung oder zumindest weitgehende Einschränkung des verfassungswidrigen Klub- oder Fraktionszwangs. Andernfalls besteht die reale Gefahr, dass die demokratische Republik Österreich in Zukunft de facto von einer einzigen, nahezu autokratisch herrschenden Person geführt wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Dr. Peter Karlberger M.C.L. (* 1957 in Wien), studierte an der Universität Wien Rechtswissenschaften und absolvierte danach an der University of San Diego, USA, ein Postgraduate-Studium der Rechtsvergleichung. Der Autor zahlreicher juristischer Publikationen ist Rechtsanwalt und Partner bei Pflaum Karlberger Wiener Opetnik, einer auf Wirtschaftsrecht spezialisierten Kanzlei in Wien.

(Print-Ausgabe, 06.05.2016)

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