Bürgerlich wählen – aber was heißt das?

Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Leistung sind zentrale bürgerliche Kategorien. Wenn es aber schiefgeht, muss oft der Staat einspringen: Mit ein Grund dafür, dass wir uns fragen, was Bürgertum heute bedeutet.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten gab es in einer kommerziellen deutschen Fernsehstation die Sendung „Verzeih mir“: Eine junge Frau erzählte von ihrer Tante, die ihr das Studium finanziert habe, nach dessen Abschluss sie sich allerdings jahrelang nicht um die Tante gekümmert habe. Und jetzt plage sie das schlechte Gewissen. Daraufhin wird die Tante ins Studio geführt, die Nichte scheint oder tut überrascht, Umarmung, Tränen und dann: „Verzeih mir“. Dazu eine Moderatorin, deren Aufgabe es ist, den öffentlichen Tränenfluss zu befördern.

Es mag altmodisch scheinen und ist es wohl auch, aber mir schien damals: Das ist das Ende des Bürgertums. Was den Nazis nicht ganz gelungen war, erledigt das kommerzielle Fernsehen. Denn hier geht es nicht um Tabubruch, um gezielte, vielleicht sogar lustvolle Provokation, hier ist das Ende der Intimität zur selbstverständlichen Norm geworden.

Renaissance der Manieren

Mittlerweile ist allerdings das, was mich so bewegt hat, in den sozialen Medien Alltag und jungen Menschen ist schwer vermittelbar, dass hier etwas verloren gegangen ist, was das Bürgertum einst unter Opfern erkämpft hatte. Ihr Einwand liegt auf der Hand: Das alles sei überholt angesichts der Überwachungsmöglichkeiten gegen uns alle, die heute schon existieren und die demnächst in kaum vorstellbarer Weise ausgebaut werden.

Nun ist aber „Intimität“ nur ein Kriterium und auch nicht das Wichtigste, wenn wir versuchen, was heute ohnehin nicht mehr geht: den Begriff „Bürgertum“ definieren zu wollen. Gerade deswegen ist der Versuch reizvoll, weil sein Ergebnis anfechtbar sein wird.

In den 1950er-Jahren, nachdem der Nationalsozialismus die Gesellschaft durcheinandergewirbelt und auch große Teile des bürgerlichen Lagers tief in sein Verbrechertum hineingezogen hatte und nachdem danach der hinterlassene Schutt – der äußere wie der innere – teilweise weggeräumt war, rückten im mühsamen Versuch, die alte Bürgerlichkeit zu rekonstruieren, die Manieren ins Zentrum: Worüber man in Gesellschaft reden kann und worüber nicht, wann und wo der Handkuss angebracht ist inklusive Distanz der Lippen, wie die Dame – gestern noch Trümmerfrau – im Restaurant dem Kellner ihre Wünsche mitteilt, nämlich gar nicht, weil nur der Herr mit dem Kellner spricht.

So sollte die einstige bürgerliche Welt wiederhergestellt werden, die Dame höflich umsorgt und entmündigt, das Proletariat wieder unten auf dem angestammten Platz, weil es nicht weiß, wer auf der Stiege vorauszugehen hat. Eine Flut von Benimmbüchern in den 1950ern sollte früher selbstverständlich Gewusstes erneut in Erinnerung rufen. Wer das empörend oder komisch fand, konnte jedoch übersehen, wie sehr Manieren unser Leben erleichtern – was gerade im Verlauf der Kulturrevolution Ende der 1960er-Jahre feststellbar war, als sie vorübergehend in Verruf gerieten.

Die diffuse „Mittelschicht“

Manieren und Intimität sind Indikatoren zum Verständnis von Bürgerlichkeit. Aber es gibt Wichtigeres, falls wir nicht davon ausgehen, dass sich früheres Bürgertum ohnehin längst aufgelöst hat in einer diffusen „Mittelschicht“. In der gegenwärtigen Literatur gibt es eine Tendenz, Kultur als mögliches Identifikationsmerkmal zu betrachten. Das meint Burgtheater und Musikverein, aber auch Experimente und Alternativszene. Es meint auch den Boom der Museen. Und der enorme Erfolg, den Markus Hinterhäuser als Konzertchef der Salzburger Festspiele hatte, als er radikal auf die Moderne setzte, zeigt, dass „bürgerliche Kultur“ ein weites Feld ist und ein wichtiger Teil bürgerlichen Lebensstils.

Ein anderer Grundtypus ist neben dem kunstsinnigen „Bildungsbürger“ der „Citoyen“ im Sinne der Französischen Revolution. Das ist derjenige, der sich einmischt. Der Psychiater Erwin Ringel pflegte gern darauf hinzuweisen, dass die griechische Ursprungsbedeutung von „Idiot“ denjenigen meint, der am öffentlichen Leben kein Interesse hat und nicht daran teilnehmen will.

Der Citoyen tritt allerdings nicht nur für seine eigenen Interessen ein, sondern hat in seinem zivilgesellschaftlichen Engagement auch das Ganze im Auge. Er ist für Ordnung, aber nicht für Law and Order. Er spricht (wieder) von „Elite“, ist aber, so er halbwegs intelligent ist, nicht gegen den Sozialstaat, weil der ihn vor sozialen Unruhen schützt und dafür sorgt, dass seine Kinder unbewacht in die Schule gehen können, weil der Sozialstaat verhindert, dass die Verhältnisse völlig aus der Balance geraten – mit unabsehbaren, auch kriminellen Folgen.

Bildung, Familie, Erbe

Geldgier ist dem Citoyen im Idealfall fremd und Armut rundherum mag er nicht. War es früher bürgerliche Wohltätigkeit, die Elend lindern sollte, so ist heute der Staat zuständig. Er lindert aber nicht nur das Elend, er hat auch die Banken gerettet, die gezockt haben. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir darauf hinweisen, dass Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Leistung zentrale bürgerliche Kategorien sind. Wenn es aber schiefgeht, muss oft genug doch der Staat einspringen. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir uns fragen, was Bürgertum heute bedeutet.

Bildung und Familie sind weitere Kategorien, die wir dem Bürgertum zuschreiben: Bücher, Kunst, Bild- und Tonträger zu Haus, die bestmögliche Ausbildung für die Kinder. Und ihnen etwas hinterlassen wollen. Darum sind Erbschaftsfragen ja auch emotional derart aufgeladen.

Der Citoyen, der an seine Nachkommen denkt, kommt aber an ökologischen Fragen nicht vorbei. Das hat dazu geführt, dass die Grünen in der Sozialwissenschaft häufig eher als bürgerliche Partei verstanden werden, was auch im gegenwärtigen österreichischen Wahlkampf seinen Niederschlag findet.

Die ökonomische Vernunft

Bürgerlichen Wählerinnen und Wählern wird die Entscheidung für Alexander van der Bellen als weltoffenem moderaten Bürger nicht schwerfallen, zumal sie eher auf die Repräsentativdemokratie setzen, die fehleranfällig genug ist, als auf die Volksabstimmungsdemokratie der FPÖ, die viel stärker Stimmungen und irrationalen Einflüssen ausgesetzt ist. Zudem spricht die ökonomische Vernunft zwingend für ein positives Verhältnis zur EU – was übrigens die ÖVP früher als andere Parteien erkannt hat. Ein FPÖ-Bundespräsident mit nachfolgendem FPÖ-Kanzler wäre hier ein unkalkulierbares Risiko.

Marine Le Pen und Geert Wilders können nicht die Partner einer österreichischen Bundesregierung sein. Das werde jetzt für die Zukunft entschieden: Van der Bellen/Kern oder Hofer/Strache, meint der Chefredakteur der „Presse“.

Resümee: Ein tradiertes Bild vom Bürgertum stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist entsprechend überholt. Doch einer „neuen Bürgerlichkeit“ werden in Teilen der Sozialwissenschaft gewisse Chancen eingeräumt. Wie diese idealerweise aussehen könnte, wurde hier in Umrissen skizziert.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Peter Huemer

(* 1941 in Linz) studierte Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte an der Uni Wien. Ab 1969 Mitarbeiter des ORF, zunächst in der Dokumentationsabteilung, von 1977 bis 1987 dann Leiter der legendären Talkshow „Club 2“; danach Moderator der Ö1-Sendung „Im Gespräch“. Zahlreiche Publikationen, mehrere Auszeichnungen und Journalistenpreise. [ Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2016)

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