Gewaltbalance und Demokratie in Österreich

Weder Präsident noch Nationalrat kann Gleichgewicht der Mächte verschieben, wenn er nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich hat.

Der Gastkommentar von Dr. Peter Karlberger, „Wird Österreich zum Führerstaat?“ („Presse“ vom 6. Mai), zu dem derzeit wohl spannendsten innenpolitischen Thema ist aufgrund zahlreicher Fehler und Irrtümer nicht geeignet, die juristischen und politischen Folgen der morgigen Stichwahl zu analysieren. Zunächst ist es unrichtig zu behaupten, der österreichische Bundespräsident habe nach der Verfassung mehr Machtfülle als der Präsident der Vereinigten Staaten.

Der US-Präsident ist im Gegensatz zu seinem österreichischen Amtskollegen nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef; auch verfügt er über ein inhaltliches Einspruchsrecht gegenüber Parlamentsbeschlüssen, was dem österreichischen Bundespräsidenten nicht gestattet ist. Vor allem aber kann der US-Präsident nur im Falle einer Rechtsverletzung und eines entsprechenden Amtsenthebungsverfahrens abgesetzt werden.

Für den österreichischen Bundespräsidenten ist Vergleichbares in Artikel 142 Bundes-Verfassungsgesetz vorgesehen; zusätzlich aber kann der österreichische Bundespräsident gemäß Artikel 60 Bundes-Verfassungsgesetz noch vor Ablauf seiner Funktionsperiode durch eine Volksabstimmung abgesetzt werden, ohne dass eine Rechtsverletzung vorliegen muss. Es reicht, dass der Bundespräsident eine Politik verfolgt, die nicht mehr vom Willen der Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher getragen wird.

Kompliziertes Verfahren

Eine solche Volksabstimmung kann nur mit Zweidrittelmehrheit des Nationalrates und einfacher Mehrheit der Bundesversammlung beschlossen werden. Das Verfahren ist also sehr kompliziert und in der bisherigen Praxis noch nie angewendet worden. Dennoch ist es von großer Bedeutung, stellt es doch das Pendant zum Recht des Bundespräsidenten, den Nationalrat aufzulösen und Neuwahlen zu initiieren, dar.

Der Präsident kann also im Konfliktfall gegen den Nationalrat vorgehen, so wie auch der Nationalrat gegen den Präsidenten. Doch keiner von beiden kann damit dauerhaft das Mächtegleichgewicht verschieben, wenn er nicht die Mehrheit des Volkes hinter sich weiß. Und damit bewahrheitet sich Artikel 1 unserer Verfassung, wonach alles Recht in Österreich vom Volk ausgeht.

Die übrigen Behauptungen Karlbergers stehen mit diesen elementaren Grundsätzen eigentlich nur in einem losen Zusammenhang, seien aber gleichfalls kommentiert: Es ist richtig, dass in Österreich die meisten Gesetze aufgrund von Regierungsvorlagen beschlossen werden, die ihrerseits zumeist auf Entwürfen der einzelnen Fachministerien beruhen.

Diese Praxis ist durch Artikel 41 Bundes-Verfassungsgesetz gedeckt und auch durchaus nicht anstößig: Vielmehr ist es eine durchaus realistische Annahme, dass jene Behörden, die Gesetze vollziehen, auch substantiiertes Wissen darüber haben, welche Auswirkungen eine Gesetzesreform haben kann und daher am ehesten in der Lage sind, einen politischen Impetus in einen Gesetzestext umzuformulieren. Es ist also unrichtig zu behaupten, dass für die Gesetzesentwürfe „eigentlich“ die Nationalratsabgeordneten zuständig wären.

Dass der US-Kongress über wesentlich mehr eigene Ressourcen verfügt und daher im Gesetzgebungsprozess eine wichtigere Rolle spielt als der österreichische Nationalrat, ist unbestritten. Aus demokratietheoretischer Sicht wäre es freilich wünschenswert, dass auch der Nationalrat mit mehr Finanzmitteln ausgestattet wird, um einen entsprechenden Mitarbeiterstab aufzubauen, der über dasselbe Fachwissen verfügt wie die Ministerien, damit er selbst Gesetze entwerfen kann. Ob der praktische Mehrwert die dafür erforderlichen Kosten rechtfertigt, ist allerdings fraglich.

Klubzwang: Die alte Leier

Bleibt zuletzt die alte Leier vom Parlament als bloßer Abstimmungsmaschine und von der angeblichen Verfassungswidrigkeit des Klubzwangs. Derartige Behauptungen können nur entstehen, wenn – wie leider auch hier – die juristische mit der politischen Seite miteinander vermengt wird.

Der Klubzwang ist Faktum; juristisch gesehen sind die Abgeordneten frei und an keinen Auftrag gebunden (Artikel 56 Bundes-Verfassungsgesetz). Diese Freiheit bedeutet aber auch, dass sie das Versprechen gegenüber anderen Parlamentskollegen abgeben können, sich bei bestimmten oder allen Abstimmungen im Parlament in einer gewissen Weise zu verhalten. Inwiefern das Prinzip des freien Mandats mit dem Prinzip der Demokratie vereinbar ist, hat übrigens zahlreichen Theoretikern, von Rousseau bis Kelsen, einiges Kopfzerbrechen bereitet. Denn es bedeutet, dass sich die Abgeordneten bewusst über den Willen ihrer Wähler hinwegsetzen können!

Das Prinzip des freien Mandats

Einen Auswuchs dieses Prinzips, dass nämlich einzelne Abgeordnete von einem Parlamentsklub zum anderen wechseln können, haben wir in den vergangenen Jahren oft genug erlebt; zu einer Stärkung der Demokratie hat es jedenfalls nicht geführt.

Seine theoretische Rechtfertigung zieht das Prinzip des freien Mandats aus dem Umstand, dass das Parlament ein Ort des Meinungsaustausches, der Diskussion und des Kompromisses sein soll, was nur möglich ist, wenn Abgeordnete über einen gewissen Handlungsspielraum verfügen. Brechen sie das Vertrauen der Wähler ohne einen rechtfertigenden Grund, riskieren sie, bei der nächsten Wahl nicht mehr gewählt zu werden.

Zu berücksichtigen ist aber, dass das Prinzip des freien Mandats wesentlich älter ist als das Prinzip des Verhältniswahlrechts, das in Österreich 1918 eingeführt wurde und das Gefüge zwischen Volk, Abgeordneten und Parteien von Grund auf verändert hat: Wurden bis dahin einzelne Abgeordnete gewählt, die sich erst im Parlament mit Gleichgesinnten zu Klubs zusammenschlossen, verhält es sich seit 1918 geradezu umgekehrt: Gleichgesinnte finden sich zu einer Wahlliste zusammen, kandidieren gemeinsam und bilden entsprechend im Parlament einen Klub.

Es ist hier nicht der Ort, um über die Vor- und Nachteile der einzelnen Wahlrechtssysteme zu streiten. Geht man vom derzeit geltenden Prinzip des Verhältniswahlrechts aus, so ist der Klubzwang – wie das schon Hans Kelsen, der Architekt des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes, erkannt hat – geradezu eine logische Folge desselben.

Ein eklatantes Problem

Der einzelne Abgeordnete verdankt sein politisches Mandat dem Umstand, dass er von seiner Partei für den Nationalrat nominiert und im Vertrauen darauf auch gewählt wurde. Setzt sich der einzelne Abgeordnete über den Willen seiner Partei hinweg, setzt er sich auch über den Willen der Wähler, die ihn gewählt haben, hinweg!

Es ist bemerkenswert, dass sich der österreichische Verfassungsgesetzgeber bisher noch nicht zu einer Behebung dieses eklatanten demokratietheoretischen Problems durchgerungen hat.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Thomas Olechowski
(*1973 in Wien) studierte Rechtswissenschaften und ist seit 2003 ao. Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Wien. Seit 2011 ist er Geschäftsführer des Hans-Kelsen-Instituts, seit 2013 ist er wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Publikationen, u. a. zu Hans Kelsen. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2016)

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