Die abgehobenen Erklärer in den Wasserköpfen

Die Kluft zwischen Stadt und Land entsteht nicht zuletzt auch aus einer verzerrten, weil zentral dominierten Sichtweise.

Heimat, das ist für die einen der nette alte Mann inmitten von prächtiger Natur – und Ästhetik pur. Dazu fügen sich gut die sehnsuchtsvollen Lieder eines Hubert von Goisern. Als Soundtrack für die anderen passen aber besser die weniger sensiblen Klänge der John Otti Band. Dort, wo Rot-Weiß-Rot und ein Herr im Mittelalter die Darstellung von Heimat dominieren, ist sie ohnehin so grün, wie sich das die Großstädter mehr denn je erträumen.

So konträr Lothar Lockl und Herbert Kickl den „Look & Feel“ ihrer Kampagnen für Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer angelegt haben, so zwiespältig ist die Wahl dann ausgegangen: Der Riss zwischen Stadt und Land war nie deutlicher. In ihm vollzieht sich am deutlichsten die Neuordnung der weiteren Antipoden nach Auflösung überholter Links-Rechts-Schemata – vom Widerstreit der Geschlechter und Generationen bis zum Verteilungskampf zwischen Modernisierungsverlierern und Zukunftsorientierten. Überraschend erscheint daran lediglich, wie viele überrascht davon wirken.

Das Paradoxon der Stichwahl

Die wachsende Stadt-Land-Kluft ist eine Herausforderung, doch erst durch unverdrossen verzerrte Wahrnehmung des Landes aus der Stadt gerät sie zum Problem. Das Paradoxon der Stichwahl um die Bundespräsidentschaft liegt weniger darin, dass beide Seiten den Heimatbegriff plakatieren, sondern dass jene, die das Bild vom Landleben bemühen, damit in den Städten am erfolgreichsten sind.

Je ländlicher die Bevölkerung, desto mehr unterscheidet sich ihre Selbstverortung von der öffentlichen Darstellung ihres Soziobiotops. Der am Sonntagabend verdeutlichte Verständnis-Graben ist vor allem eine Fallgrube für die Stammsitze der Deutungshoheit – die Wasserköpfe dieser föderalen Republik.

Wie aus jedem Bundesland gegen die Dominanz der Metropole gelästert wird, so hat in jeder Region die eigene Hauptstadt eine ähnliche Funktion. Wo das Wettern wider Wien am lautesten erschallt, liegt die Wahrnehmung des eigenen Umfelds oft ebenso daneben.

Das ist nicht nur ein Versagen von Politik, in der die einstigen Volksparteien noch über engmaschige Funktionärsnetze verfügen. Es entsteht auch aus dem Umbruch der Medienlandschaft. Digitalisierung und Globalisierung bieten jenen neue Artikulationsmöglichkeiten, die sich in etablierten Programmen zu kurz gekommen fühlen. Je nationaler der Kanal, desto eher ist dies die Landbevölkerung.
Nicht von ungefähr war die meistgesehene ORF-Sendung am Wahlabend „Bundesland heute“. Das Vertrauen der Adressaten wächst mit der Nähe der Absender. Je leichter über die sogenannten sozialen Netzwerke jeder zum global verfügbaren lokalen Nachrichtenanbieter werden kann, desto deutlicher steigt die Abscheu vor der Ferndiagnose ureigener Zustände. „Wien, erster Bezirk“ ist wie „Küniglberg“ bei vielen Meinungsführern in Landeshauptstädten auch eine Metapher für abgehobene Österreich-Erklärer aus Politik und Medien, deren Erdferne sich mitunter schon durch die falsche Betonung chronikaler Unglücksorte in Restösterreich entlarvt.

Dabei ist die fälschliche Selbststilisierung des medial privilegierten Innsbruckers zum prototypischen Tiroler ebenso häufig. Sie wird heute lediglich transparenter, weil der sofortige Widerspruch via Facebook umgehend folgt.

Folgerichtig gerät der Verhaltensgraben zwischen Stadt und Land umso tiefer, je dominanter der urbane Raum für ein Land wirkt. Graz hat um eine Viertelmillion mehr Einwohner als die zweitgrößte Kommune in der Steiermark (Leoben). Trotz 64,4 Prozent für Van der Bellen in der Hauptstadt beträgt sein Ergebnis im gesamten Land nur 43,8 Prozent.

Politische Sonderfälle

Ebenso im zweistelligen Bereich klaffen Innsbruck und Tirol (63,1:51,4), Linz und Oberösterreich (62,8:51,3), Salzburg total und urban (58,9:47,2) auseinander. Auch dort ist die Hauptstadt um jeweils mehr als 100.000 Einwohner größer als die Nummer zwei. So hohe Abstände zum Land insgesamt gibt es zwar auch in Eisenstadt (50,3:38,6) und Klagenfurt (52:3:41,9), doch das Burgenland ist infolge Wien-Nähe und Kärnten ohnehin ein politischer Sonderfall.

Dort, ebenso wie in der Steiermark – und mit Abstrichen auch in Salzburg – wird die Flüchtlingsproblematik vor allem von der Landbevölkerung am stärksten persönlich und nicht nur wie von vielen Städtern bloß via Medien erlebt. Auch diese unterschiedlichen Wahrnehmungen sind eine Ursache für das divergierende Wahlverhalten.
Es wird einerseits verstärkt durch die verschiedenen neuen regionalen Koalitionsorientierungen von Rot- und Schwarz-Grün bis Schwarz- und Rot-Blau. Andererseits verschärft die konträre Schrumpfung von SPÖ und ÖVP die Gegensätze.

Eine wichtige Geste

Den Sozialdemokraten droht aufgrund ihrer jüngsten Landtagswahlniederlagen das Schicksal einer Regionalpartei Ost-Süd mit Horizont Oberösterreich. Dass gleich drei rote Regierungsmitglieder von dort stammen, zeigt Krisenherdbewusstsein, löst aber noch kein ferner liegendes Problem. Die Westachse der Volkspartei reicht unterdessen zwar weiter als in ihrem Selbstverständnis vom Boden- bis zum Mondsee schon über die gesamte A1-Route, doch ohne Restaurierung der Wiener Restbestände gibt es kaum eine schwarze Kanzlerperspektive.

Kärnten wiederum zeigt, welch enormes Veränderungstempo der Souverän heute von seinen Repräsentanten erwartet. Nahezu 60 Prozent für Norbert Hofer, das beinhaltet Enttäuschung mit einer rot-schwarz-grünen Koalition, die aufgrund der Aufräumarbeiten auch drei Jahre nach der blau-orangen Ära immer noch eher im Reagieren als Regieren verharrt.

Mit der Idee, auch in Landeshauptstädten zu residieren, setzt Alexander Van der Bellen mehr als eine kommunikative Duftmarke. In solchem Verweilen liegt ein Ansatz zur Überwindung der Kluft zwischen dem Urbanen und Ruralen. So wichtig die Geste des Immer-wieder-Kommens auch ist, das Signal des Etwas-länger-Bleibens wäre stärker.

Landflucht und Landlust

Die Biografie des designierten Bundespräsidenten vom Flüchtlingskind im hintersten Tal zum Politikstar in der Metropole bietet alle Möglichkeiten, diesen Weg auch mit der notwendigen Authentizität zu gehen. Denn in Van der Bellen und seiner Darstellung vereinen sich die vermeintlich unvereinbaren Widersprüche zweier Megatrends: Landflucht und Landlust. Während der Zuzug in die Städte unvermindert anhält, wächst bei den Stadtbewohnern die Sehnsucht nach dem Abseits der Häuserschluchten.

Doch dieses „Ich will raus“ unterliegt ebenso einem Trugbild von heiler Welt, wie der urbane Überlegenheitsgestus auf dem Irrglauben an die eigene Modernität beruht. Die Wahrheit über das ideale Jetzt und Morgen liegt genau dazwischen – auf den notwendigen Brücken über die tiefe Kluft zwischen Stadt und Land.

DER AUTOR

Peter Plaikner (* 1960 in Innsbruck) arbeitete als Journalist in Tirol. Seit 2005 selbstständiger Medienberater und politischer Analytiker in Innsbruck, Klagenfurt und Wien. Lehrgangsmanager für Politische Kommunikation an der Donau-Universität Krems. Zahlreiche Publikationen, u. a. Jahrbücher für Politik Vorarlberg/Tirol/Burgenland.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2016)

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