2019 – als sich Europa neu aufzustellen beginnt

Ein Blick in die Zukunft: Auf Betreiben von Frankreich und Deutschland wird die EU radikal reformiert und in eine politische Union mit starken Strukturen umgebaut. Wo aber sieht Österreich seinen Platz im neuen Europa?

Es ist der erste Tag des neuen Jahres 2019. Österreich zelebriert im Wiener Musikverein nicht nur das zum dritten Mal von Franz Welser-Möst dirigierte Neujahrskonzert. Es ist zugleich der erste Tag der letzten sechsmonatigen EU-Präsidentschaft, mit Österreich an der Spitze der EU. Die gesamte Republik hat sich angesagt, vom 2016 gewählten Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen über Bundeskanzler Heinz-Christian Strache bis hin zu anderen Mitgliedern der Regierung.

Es ist das letzte Mal, dass ein Land die EU-Präsidentschaft innehat. Obwohl nach dem Rotationsprinzip ab Juli Rumänien und ab Jänner 2020 Finnland den Vorsitz hätten übernehmen sollen, wurde als Resultat allgemeiner politischer Entwicklungen der vergangenen Jahre das schon zur Routine gewordene Rotationsmodell per 1. Juli 2019 abgeschafft. Und überhaupt hat sich vieles in Europa getan.

Zäune und Tränengas

Die Weichen für die kritischen Entwicklungen wurden schon vor Jahren gestellt, kulminierten aber ab dem Frühjahr 2015. Wir erinnern uns: Nachdem die Route über das Mittelmeer immer riskanter wurde, begannen Flüchtlinge, den Landweg über den Westbalkan und Zentraleuropa zu nehmen. In einer Kettenreaktion, die mit dem Errichten von Zäunen durch Viktor Orbán in Ungarn begann, wurden Flüchtlinge immer mehr als Gefahr angesehen, die es mit Zäunen und Tränengas abzuwehren galt.

Irgendwann vollzogen auch Deutschland und Österreich nach anfänglichen Willkommensgesten den Salto mortale und riegelten wieder ihre Grenzen ab. Kurz darauf setzten auch die restlichen Schengenländer de facto den freien Personenverkehr außer Kraft. Von einer Übergangslösung wurden Grenzzäune schnell zur Ultima Ratio der europäischen Politik. Nach Schließung der „Balkanroute“ verringerten sich zwar kurzzeitig die Flüchtlingsströme über den Landweg. Als tragische Konsequenz wurden diese jedoch auf das viel gefährlichere Mittelmeer umgeleitet. Auch hier galt im öffentlichen Diskurs: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Ironischerweise wurden die Flüchtlinge und deren Schicksal gerade in jenem Moment zu einem Thema des österreichischen Präsidentenwahlkampfs 2016, als die Grenzen Österreichs schon geschlossen waren. In einem heißen Endspurt wurde zwar Alexander Van der Bellen neuer Bundespräsident, fast 50 Prozent der Bevölkerung aber stimmten für den FPÖ-Kandidaten, Norbert Hofer. Österreich blieb gespalten, der politische Kampf im Land spitzte sich zu, der Ton wurde immer rauer.

Europa in Schockstarre

Der Wahlkampf und Norbert Hofers gutes Abschneiden schlugen international hohe Wellen. In den Wochen und Monaten nach der österreichischen Wahl ging es europaweit Schlag auf Schlag. Am 23. Juni 2016 votierte die knappe Mehrheit der Briten für den Brexit. Großbritannien wurde das erste Land, das die EU verließ. Der Brexit hinterließ Europa in einer Schockstarre. Die rechtspopulistischen Kräfte wurden in vielen EU-Ländern noch stärker bzw. verstärkten ihre Kritik an der EU.

Knapp ein Jahr nach dem britischen Referendum musste die österreichische Bevölkerung zu einer vorgezogenen Wahl schreiten. Die FPÖ gewann haushoch, der neue Kanzler, Heinz-Christian Strache, läutete das Ende der Zweiten Republik ein.

Zugleich fanden 2017 die wichtigen Bundestags- beziehungsweise Präsidentschaftswahlen in Deutschland und Frankreich statt. Die Ergebnisse waren symptomatisch für die doch unerwarteten tektonischen Umbrüche in der politischen Landschaft des alten Kontinents. Während in Deutschland die Alternative für Deutschland stark zulegen konnte und erstmals drittstärkste Kraft werden konnte, hat Kanzlerin Angela Merkel noch einmal ihre strategische Überlegenheit bewiesen und der CDU (die erstmals getrennt von der CSU angetreten ist) den Wahlsieg beschert. Nach zähen Verhandlungen mit den Grünen wurde eine neue Mehrheit im Bundestag bzw. eine für Deutschland einzigartige Regierungskoalition gesichert.

Reformierung des EU-Kerns

Parallel dazu konnte in Frankreich Emmanuel Macron, aus der En-Marche-Bewegung kommend, dank seiner extrem hohen Beliebtheitswerte zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik sogar einen amtierenden Präsidenten vom Antritt zur Wiederwahl abhalten und problemlos gegen seinen konservativen Herausforderer die Wahl für sich entscheiden.

Die beiden Wahlen wurden von einem unerwarteten proeuropäischen Ton begleitet. Die veränderte politische Landschaft in beiden Ländern machte rasch den Weg frei für die radikale Reformierung des Kerns der neuen EU in Richtung einer stärkeren politischen Union. In der Konstruktion der neuen politischen Strukturen beseitigte man jene Fehler der Vergangenheit, die das alte EU-Brüssel so berüchtigt und bei europäischen Bürgern unbeliebt gemacht hatten.

Die rotierende EU-Präsidentschaft wurde zur Gänze abgeschafft. Man bewegte sich in Richtung einer neuartigen konföderalen Union, die von allen Bürgern noch direkt in nationalen Referenden bestätigt werden muss. In dieser neuen Union soll jeder Bürger das gemeinsame Parlament wählen können. Im neuen Zentrum der europäischen Demokratie wird dann eine stabile Mehrheit den neuen Kommissionsvorsitz bestimmen, der wiederum als gesamteuropäische Exekutive dienen wird.

Der neue, evolutionäre Weg

Anstatt des bisher dominanten EU-Rats und der lahmen Brüsseler Ministerräte wird die neue, abgespeckte und rasch agierende Kommission künftig alle wichtigen exekutiven Anliegen mit den Regierungen der Mitgliedstaaten direkt koordinieren und aushandeln. Verstärkt werden somit europäische Kernkompetenzen in den Bereichen Finanz, Wirtschaft, Sicherheit und Außenpolitik, aber auch Bildung, Wissenschaft und Kultur.

Der neue, evolutionäre Weg der EU wurde zur Überraschung vieler Beobachter von den Bevölkerungen in relativ vielen der 28 EU-Mitgliedsländer getragen: Neben Deutschland und Frankreich sprachen sich Schweden, Dänemark, Finnland, Italien, Spanien, die drei baltischen Staaten sowie die Beneluxländer und Slowenien für die neue Union aus. Andere blieben draußen und suchten weiter nationale Antworten auf globale Probleme. Wo aber hat Österreich in diesem neuen Europa seinen Platz gefunden?


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTOREN

Dr. Filip Radunović studierte Publizistik sowie Politikwissenschaft, Geschichte und Slawistik an der Universität Wien. Er ist Projektmanager im Programmbereich Europa der Erste Stiftung, zuständig für Projekte mit Schwerpunkt auf Migration, politische Bildung und zivilgesellschaftlichen Dialog.

Dr. Vedran Džihić (* 10. Sept. 1976 in Prijedor in Bosnien und Herzegowina) studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Uni Wien. Derzeit ist er Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) und Lehrender an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen.

(Print-Ausgabe, 27.05.2016)

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