Europa – wohin? Zwei Entscheide im Schicksalsmonat Juni

Die Briten stimmen über EU ab, das deutsche Verfassungsgericht über OMT.

Der Juni 2016 wird zu einem Schicksalsmonat für Europa. Denn es stehen zwei Entscheidungen an, die maßgebliche Bedeutung für die Zukunft der EU haben werden: am 23. Juni die Entscheidung über den Verbleib oder Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit) und zwei Tage vorher, am 21. Juni, die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts über das OMT-Programm (= Outright Monetary Transactions) der Europäischen Zentralbank.

Wichtiger ist natürlich die Brexit-Entscheidung. Die neue Europa-Skepsis der Briten wurde durch die Eurokrise geschürt. Obwohl Großbritannien die Krise praktisch gar nicht mitfinanziert, sind die britischen Ängste gewachsen, eines Tages doch in den Strudel der Haftung für die Schulden der Banken und Staaten Südeuropas hineingezogen zu werden.

Zudem zerrt auch die Flüchtlingskrise an den Nerven der Briten. Nachdem London in den 1970er-Jahren der einfachen Zuwanderung aus dem Commonwealth einen Riegel vorgeschoben hatte, befürchten die Briten nun, Opfer einer neuen Migrationswelle aus der EU zu werden. Nur die Angst der noch unentschiedenen Wähler vor den Risiken eines Austritts könnte vermutlich auch diesmal eine knappe Mehrheit für den Verbleib im Euro bedeuten.

Fehlendes Vertrauen

Dennoch ist die EU angeschlagen. Die Unfähigkeit der Brüsseler Spitzenkräfte, eine glaubwürdige und überzeugende Strategie für Europa zu präsentieren, die auf die Selbstheilungskräfte und die Marktdynamik des Kontinents setzt, ist so offenkundig, dass es vielen Europäern derzeit schwerfällt, diesen Leuten weiter Vertrauen entgegenzubringen. Die Zeit bedingungslosen Vertrauens in die Alternativlosigkeit des in Brüssel eingeschlagenen Wegs ist vorbei.

Obgleich weniger spektakulär, hat auch die im Juni anstehende OMT-Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts das Potenzial, die EU zu verändern. Es geht bei dieser Entscheidung um die Frage, ob die Bundesbank sich an der unbegrenzten Deckungszusage beteiligen darf, die die EZB 2012 den Käufern der Staatspapiere der Krisenländer gegeben hat.

Budgetrecht beim Bundestag

Anleger, die die Staatspapiere eines Krisenlandes kaufen, brauchen vor dem Konkurs dieses Landes keine Angst mehr zu haben. Denn bevor eine Konkursgefahr virulent wird, kauft ihnen die EZB die kritischen Papiere ab. Nur ein Antrag beim ESM muss gestellt werden. Damit wird das Konkursrisiko den Steuerzahlern der noch gesunden Länder der Eurozone zugeschoben, die in einem solchen Fall dauerhaft auf Gewinnausschüttungen des Eurosystems verzichten müssen.

Bei der anstehenden Entscheidung geht es um die Frage, ob die vom EuGH bereits abgesegnete Interpretation der Verträge mit dem deutschen Grundgesetz kompatibel ist oder ob das allein dem Bundestag zustehende Budgetrecht ausgehöhlt wird. Hierüber kann der EuGH nicht entscheiden. Es sprechen deshalb manche Gründe dafür, dass das deutsche Verfassungsgericht der Bundesbank Bedingungen für die Teilnahme am OMT setzen wird.

Wenn das deutsche Gericht bei seiner Linie bleibt, werden die Spreads auf den Märkten, die heute viel zu niedrig sind und die wahren Risiken der Investitionen gar nicht mehr widerspiegeln, wieder ansteigen. Das würde manche Tagträume beenden. Doch wäre es ein Schritt zur Stärkung der Eigenverantwortung und zu einer Rückkehr zu festen Budgetbeschränkungen, ohne die kein Wirtschaftssystem überleben kann. Auch das Eurosystem nicht.

Hans-Werner Sinn, Professor, war 17 Jahre lang Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München und Berater des deutschen Wirtschaftsministeriums.
Copyright: Project Syndicate, 2016.

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(Print-Ausgabe, 02.06.2016)

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