Wenn alle Mittel recht sind: Sport? Welcher Sport?

Das Beispiel Russland zeigt, dass autoritäre Staaten sich gedopter Sportler bedienen, um ihr Image aufzupolieren.

Wer kann beschwören, dass Russlands Fußballteam bei der Europameisterschaft in Frankreich (10. Juni bis 10. Juli) nicht gedopt sein wird? Seit mehr als einem halben Jahr arbeiten sich die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), das Internationale Olympische Committee (IOC) und eine Heerschar investigativer Journalisten an den Dopingskandalen des Wladimir-Putin-Landes ab.

Hunderte Dopingproben, die während der Sommerspiele 2008 in Peking und 2012 in London genommen wurden, ergaben bei retrospektiven Analysen eine Vielzahl positiver Ergebnisse. Unter den Sportbetrügern, deren Namen – noch – nicht genannt werden, sollen sich viele Russen befinden, sagt Russlands Sportminister Vitalij Mutko. Dieser hatte bis vor Kurzem die Dopingvorwürfe gegen sein Land als „US-Kampagne, um Russland zu diskreditieren“ bezeichnet.

Der russische Whistleblower Vitalij Stepanov, ein früherer Mitarbeiter der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada, behauptet, bei den Winterspielen in Sotschi 2014 hätten 15 gedopte russische Medaillengewinner, unter ihnen vier „Goldene“, teilgenommen. Stepanov zeichnete ein Gespräch mit dem ehemaligen Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors Grigori Rodschenkow heimlich auf, in dem Rodschenkow genau das behauptet.

Von Staats wegen gedopt

Der amerikanische TV-Kanal CBS spielte das Band in der Sendung „60 Minutes“. Die Empörung über die Russen breitete sich explosionsartig aus. Umso mehr, als es seit Herbst 2015 Hinweise darauf gibt, dass in Russland von Staats wegen systematisch gedopt wird. Rodschenkow gab vor Kurzem in einem Interview mit der „New York Times“ zu, er habe in seinem Labor während der Winterspiele Dopingproben russischer Athleten nächtens heimlich gegen saubere Urinproben ausgetauscht.

Dabei half ihm ein Mann, der vor Beginn der Spiele im Labor aufgetaucht war und der sich den Laborangestellten nicht vorgestellt hatte. Die Vermutung liegt nahe, dass er vom russischen Geheimdienst abgestellt worden war, um die Säuberung der „nationalen“ Dopingproben sicherzustellen.

Russlands Plan sei es gewesen, so Rodschenkow, möglichst viele Goldmedaillen zu erobern, um als erfolgreichste Nation der Spiele zu glänzen. Der Plan ging auf, Russland hamsterte 33 Medaillen, davon 13 Goldene. Die Bilanz ist nun freilich schwer gefährdet – und die Teilnahme russischer Leichtathleten (und womöglich Sportler anderer Disziplinen) an den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro wackelt bedenklich.

Nicht einmal mehr der aus Deutschland stammende IOC-Präsident Thomas Bach, ein Vertrauter Putins, wollte zuletzt die (vorübergehende?) Verbannung Russlands aus der olympischen Familie kategorisch ausschließen. Und werden die russischen Kicker während der Euro 2016 von den internationalen Dopingjägern öfter geprüft werden als andere?

Die Nerven scheinen bis zum Zerreißen gespannt. Der Internationale Leichtathletikverband (IAAF) will am 17. Juni in Wien über einen Ausschluss der Russen von den Spielen in Rio beraten. IAAF-Präsident Sebastian Coe, selbst ein Olympiasieger auf der Mittelstrecke, begrüßte die nachträglichen Dopingtests. Die russische Olympiasiegerin und Weltrekordlerin im Stabhochsprung, Jelena Issinbajewa, kündigte eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, falls sie nicht an den Sommerspielen in Rio teilnehmen dürfe.

2018 steigt die Fifa-Weltmeisterschaft in Russland. Falls die Russen tatsächlich aus Gründen der Sippenhaftung – „viele Russen dopen, also dürfen auch bisher unbelastete Russen nicht mitmachen“ – Rio fernbleiben müssen, ist dann auch ein Ausschluss des russischen Teams von der WM denkbar?

Vorwürfe, aber kaum Beweise

Der Wickel begann Ende 2015 mit der Veröffentlichung des ersten Berichts einer „Unabhängigen Kommission“ der WADA. Interviews mit Informanten und die Analyse Tausender Dokumente ergab das Bild eines korrupten, systematisch dopenden Staatssportsystems, an dem Labormitarbeiter, Funktionäre, Ärzte und Sportler mitwirken.

Funktionäre warnten Sportler vor Dopingtests und verhalfen ihnen auch, in manchen Fällen gegen Bares, zu verbotenen Medikamenten. Eine ARD-Dokumentation („Top Secret Doping: Wie Russland seine Sieger macht“) hatte von Vitalij Stepanov und seiner Frau Julia, einer Langstreckenläuferin, heimlich aufgenommene Videos gezeigt, in denen russische Sportler von Ärzten Dopingmittel erhalten.

Der Vorsitzende der Weltorganisation der Anti-Doping-Wissenschaftler (WAADS), der Niederländer Peter van Eenoo, wandte jedoch in einem seiner seltenen Statements ein, der Bericht der Unabhängigen Kommission habe Vorwürfe, aber kaum stichhaltige Beweise erbracht. Eenoo: „Wir wenden uns nun an eine unabhängige Institution, um diese Vorwürfe prüfen zu lassen.“

Kein uneigennütziger Kampf

Nach einem zweiten Bericht der Unabhängigen Kommission und dank der positiven Ergebnisse der Nach-Tests verdichten sich jedoch die Vorwürfe gegen Russland. Dank der rasanten Entwicklung der Analysetechnik können heute beispielsweise Spuren von Anabolika, die sich lange im Körper halten, nachgewiesen werden.

Die WADA und der Vorsitzende der Unabhängigen Kommission, der Kanadier Richard Pound, kämpfen wohl auch nicht uneigennützig für einen sauberen Sport. Die WADA braucht viel mehr Geld, ihr Ex-Präsident Pound braucht Aufmerksamkeit. Das Aufdecken von Betrügereien stärkt beider Anspruch, als (einzige?) moralische Instanz des Sports zu gelten.

Doch Sportler- und Labor-Bashing wirkt wie Erbsenwerfen gegen Wasserwerfer. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB war offenbar in Sotschi involviert. Für ihn spielt Geld keine Rolle, und das Öffnen und Wiederverschließen von „fälschungssicheren“ Glasflaschen lernen die Agenten wahrscheinlich in der Unterstufe. Es geht um Staatsinteressen, dafür ist jedes Mittel recht.

Im Februar starb der einstige Chef der staatlichen russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada), Nikita Kamajew (52), an einem unerwarteten Herzinfarkt. Er soll laut Angaben des englischen Sportjournalisten David Walsh („Sunday Times“) an einem Buch über Russlands Dopingsystem gearbeitet haben. Im englischen „Guardian“ sagte der ehemalige Rusada-Generaldirektor Ramil Khabriev, er habe Kamajew nie über Herzprobleme klagen gehört. Zuvor war der ehemalige Generaldirektor der Rusada, Wjatscheslaw Sinew, gestorben. Todesursache ungeklärt.

Untergetaucht in den USA

Die Stepanows leben mittlerweile in den USA an einem geheimen Ort. Sie haben ihre Heimat nicht freiwillig verlassen, sondern sind vor den russischen Behörden geflüchtet, sagen sie. Rodschenkow lebt mit seiner Familie seit Kurzem ebenfalls in den USA. Er sei vor die Wahl gestellt worden, während der Winterspiele in Sotschi zu kooperieren oder die Konsequenzen zu tragen, gibt er an.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Johann Skocek

(geb. 1953) studierte Sport und Geschichte, arbeitete für „Die Presse“ und „Der Standard“ und ist seit 2004 freiberuflicher Journalist. Er schrieb etliche Bücher über die Geschichte und Sportgeschichte Österreichs, zuletzt „Mister Austria“, die Biografie des Auschwitz-Überlebenden Norbert Lopper. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2016)

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