Mildtätigkeit ohne Politik ist keine Lösung

Die Kirchen zwischen dem Engagement der Gläubigen und ihrer politischen Intransigenz.

Die Flüchtlingskrise, die von Anfang an eine Krise der massenhaften Migration nach Europa ist, hat tragende gesellschaftliche Institutionen in eine Glaubwürdigkeitskrise gebracht: die EU, weil die Staaten verschiedene Interessen und sehr verschiedene Auffassungen davon haben, wie sich ihre Gesellschaften entwickeln sollen, die Staaten, in denen die politischen Kräfte um einen Weg zwischen Abwehr und Willkommenskultur ringen, die Medien, die mit einem schönfärberischen Optimismus das Misstrauen der Leser erwecken. Am ehesten noch haben sich die Gemeinden bewährt, wo Politik, geübte nachbarschaftliche Praxis und spontanes bürgerschaftliches Engagement bei der Unterbringung von Flüchtlingen eng verbunden sind.

In einer besonderen Lage sind die Kirchen. Wir verwenden hier die Mehrzahl, weil alle christlichen Konfessionen sich auf die eine oder andere Weise in der Flüchtlingsbetreuung und -unterbringung engagieren – es wird aber zwangsläufig hauptsächlich von der katholischen Kirche die Rede sein. Sie hat als einzige Großinstitution mit ihren Pfarren eine buchstäblich flächendeckende Organisation und mit der Caritas die größte Wohlfahrtseinrichtung des Landes.

Die Kirchen verfügen über ein großes Reservoir an Menschen, die von einem Ethos praktischer Barmherzigkeit bestimmt sind. Sie sorgen dafür, dass ein gewisser Grundwasserspiegel tätiger Nächstenliebe erhalten bleibt. Ohne sie würden auch manche Strukturen des Wohlfahrtsstaates nicht funktionieren. Viele der Ehrenamtlichen kommen aus einer Pfarre oder Kirchengemeinde.

Lange bevor die wahre Dimension der säkularen Wanderungsbewegung allgemein bewusst wurde, wussten die Kirchen von deren Ursachen in den Herkunftsländern der Migranten und Flüchtlinge. Sie wissen das, weil sie etwa in vielen Gegenden des subsaharischen Afrika durch ihre Missionare und Ordensfrauen, die als Krankenschwestern, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen arbeiten, das Grundnetz von Betreuung und gesellschaftlichem Zusammenhalt sicherstellen.

Es ist aber ausgerechnet ein Afrikaner, der Kurienkardinal Peter Turkson, der auf die verheerenden Auswirkungen des Exodus auf die Herkunftsländer hinweist. „Afrika kann diese demografische Ausblutung nicht länger verkraften“, sagte der aus Ghana stammende Präsident des Päpstlichen Friedensrates. Die vielen jungen Menschen dürften ihrer Heimat nicht verloren gehen. Gegen manche Blauäugigkeit auch in der Kirche, die im Namen der Menschlichkeit jede Begrenzung der Zuwanderung ablehnt, sagt der Kardinal: Europa selbst könne nicht immer mehr Menschen aufnehmen und integrieren. „Wir haben die Krisen in den EU-Ländern von Griechenland bis Frankreich, die Angst vor Überfremdung in der Bevölkerung. Mildtätigkeit ist keine Lösung.“

Man muss sich allerdings fragen, ob es im Sinne der vielen engagierten Katholiken ist, wenn sich die Kirchenleitung und andere, die sich zu Sprechern des österreichischen Katholizismus gemacht haben, in der Flüchtlingspolitik einen gesinnungsethischen Rigorismus leisten, dem keine politische Bemühung um Lösung des Problems genügt. Sie urteilen apodiktisch: „Diese Politik ist nicht christlich“ (was selbstverständlich als Spitze gegen die christlich-soziale Partei gemeint ist, der zwei der Minister, die mit der Migration zu tun haben, angehören).

Für sich selbst nimmt man selbstverständlich in Anspruch, allein das Christentum zu verwirklichen, denn seine eigene Politik richtet sich ja nach der Bergpredigt, die „politisch zu lesen“ sei, wie uns eine Wiener Theologin belehrt. Dass jemand anderer vielleicht auch aus christlicher Motivation Politik macht und dabei zu anderen Schlüssen kommt als man selbst, kann nicht sein. Gegen so jemanden darf man ohne Weiteres den Vorwurf, er sei „inhuman“, erheben. „Einfach die Bergpredigt mit der Asylpolitik kurzzuschließen unterschreitet das Niveau der politischen Ethik des Christentums“, schreibt dazu ein Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Exemplarisch für die Ambiguität mancher kirchlicher Stellungnahmen ist die Reaktion der Kirche auf die Vorschläge von Außenminister Sebastian Kurz in der vergangenen Woche. Der Präsident des päpstlichen Rates für Migration, Kardinal Antonio Maria Vegliò, nannte sie kurzerhand „menschenunwürdig“, zugleich „versteht“ er natürlich, „dass sich die Länder vor diesen Ankünften schützen wollen“. Damit werde den Menschen aber das „Recht auf Auswanderung“ genommen. Dieser Begriff ist neu, offenbar will der Migranten-Kardinal damit ein Recht auf Einwanderung etablieren, das es bekanntlich nicht gibt.

Es gibt keine Aussage der Kirche oder eines kirchennahen Funktionärs zum Flüchtlingsproblem, in der nicht zugegeben wird, man könne „natürlich nicht alle nehmen“. Wer das sagt, muss aber eine Obergrenze nennen können, sonst ist es nur eine belanglose Redensart. Wenn 37.500 zu wenige sind, sind es vielleicht auch 375.000. Man wundert sich, dass niemand diesen logischen Schluss ziehen will. Die Bischöfe haben bisher jeden Versuch abgelehnt, den Zustrom einzudämmen. Sie haben auch keine Antwort darauf, was staatliche Grenzen unter diesen Umständen noch bedeuten sollen.

Warnung vor Angstgesellschaft

Beliebt ist die Warnung vor einer „Angstgesellschaft“, mit der sich schöne Vortragsabende füllen lassen. Man verstehe zwar die „Ängste der Menschen“, beteuert der Redner herablassend, aber eigentlich seien sie zu dumm zu begreifen, welche Bereicherung die Zuwanderung und welche Vorteile eine „bunte“ Gesellschaft haben werde. Dass es wirkliche Probleme gibt, die vielen Menschen Sorgen machen, wird mit frivolem Frohsinn weggewischt. Probleme, die mit den kulturellen und religiösen Differenzen zu tun haben, die sich nicht einfach dadurch lösen lassen werden, dass man sie herunterspielt oder dass man sie nur als Gegensatz zwischen den angeblich guten Kräften der Gesellschaft, die die Migranten willkommen heißen, und der politischen Rechten, die sie abwehren wollen, versteht.

Die Grenze von ernsthafter Glaubenspraxis zum Gesinnungskitsch ist jedenfalls überschritten, wenn in Salzburg die Gläubigen in der Osternacht aufgefordert wurden, ihre Kerzen mit Stacheldraht zu umwickeln, um so ein „Zeichen gegen die neu errichteten Grenzzäune in Europa zu setzen“. Und wenn der Erzbischof von Köln auf den Trümmern eines Flüchtlingsboots aus Malta am Fronleichnamstag die heilige Messe zelebriert, wird ein hohes kirchliches Fest zu einem politmedialen Spektakel degradiert.

Die vehemente Ablehnung jedes Versuchs der Beschränkung von Zuwanderung durch die offizielle Kirche erweckt den Eindruck, dass sie sich in der Flüchtlingskrise endlich auf einem lang ersehnten Boden der Gewissheit wähnt, wo sie sicher nicht fehlgehen kann. Man wird dabei an Worte von Max Weber erinnert, dass hier die „Ethik als Mittel des Rechthabens benutzt wird“. Wie viele Gläubige davon ebenso überzeugt sind oder von der eigenen Kirche verstört sind, wissen wir nicht.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.comHans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2016)

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