Sehnsucht nach mächtigen Staatenlenkern

Weltweit geht der gegenwärtige politische Trend augenscheinlich in Richtung eines verstärkten Autoritarismus. Im Spätherbst wird sich zeigen, wie widerstandsfähig das US-System gegen die autoritäre Versuchung ist.

Weltweit scheint sich ein Trend in Richtung eines verstärkten Autoritarismus breitzumachen. Vladimir Putin bedient sich erfolgreich des Nationalismus, um seine Kontrolle über Russland zu straffen. Xi Jinping ist Vorsitzender einer wachsenden Zahl maßgeblicher Ausschüsse der politischen Entscheidungsfindung und gilt als Chinas mächtigster Staatschef seit Mao Zedong. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, ersetzte kürzlich seinen Premierminister durch jemanden, der seinen Ambitionen zur Machtkonzentration wohlwollender gegenübersteht. Und einige Kommentatoren fürchten, dass Donald Trump, sollte er im November zum US-Präsidenten gewählt werden, sich als „amerikanischer Mussolini“ erweisen könnte.

Zu Führungsstärke gehört auch Machtausübung und wie Lord Acton mit den berühmten Worten warnte: Macht korrumpiert. Doch ohne Macht – also die Fähigkeit, andere dazu zu bringen, das zu tun, was man will – können Führungspersönlichkeiten nicht führen.

Macht per se ist weder gut noch schlecht. Mit ihr verhält es sich wie mit den Kalorien in der Ernährung: Zu wenig führt zu Abmagerung, zu viel bringt Fettleibigkeit mit sich. Emotionale Reife und Übung sind bedeutende Faktoren, um die narzisstische Lust an der Macht zu begrenzen und effektive Institutionen sind von entscheidender Bedeutung, um ein Gleichgewicht zu erreichen. Ethik und Macht können einander verstärken.

Ethik kann allerdings auch instrumentalisiert werden, um die Macht zu vergrößern. Machiavelli widmete sich der Bedeutung der Ethik für Führungspersönlichkeiten, allerdings in erster Linie hinsichtlich des Eindrucks, den sichtbare Zeichen der Tugend bei ihren Anhängern hinterlassen. Der Anschein von Tugend ist eine bedeutsame Quelle weicher Macht – der Fähigkeit, nicht mit Zwang oder Geld, sondern aufgrund von Anziehungskraft zu bekommen, was man möchte.

Tatsächlich sollten die Tugenden eines Fürsten in den Augen Machiavellis lediglich von anderen wahrgenommen, aber niemals echt sein. „Ich wage sogar zu sagen, dass es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen ist nützlich.“

Besser gefürchtet als geliebt

Machiavelli betonte auch die Bedeutung der harten Macht von Zwang und Geld, wenn es für den Fürsten um einen Kompromiss mit der weichen Macht der Anziehungskraft geht, „da geliebt zu werden von den Untertanen abhängt, während er nur auf sich selbst angewiesen ist, um gefürchtet zu sein“. Machiavelli war der Meinung, es sei besser, gefürchtet als geliebt zu werden, wenn man vor dieser Wahl stünde. Aber er verstand auch, dass Furcht und Liebe keine Gegensätze sind und dass das Gegenteil von Liebe – Hass – für einen Herrscher besonders gefährlich ist.

Die anarchische Welt der italienischen Stadtstaaten der Renaissance war zwar gewalttätiger und gefährlicher als die Welt der heutigen Demokratien. Aber manche Aspekte der Ratschläge Machiavellis bleiben auch für Staatenlenker von heute relevant. Neben dem Mut des Löwen pries er auch die strategische List des Fuchses.

Idealismus ohne Realismus hat die Welt noch selten neu gestaltet. Aber wir sollten in modernen Demokratien jene Führungspersönlichkeiten unterstützen, die neben einem Bedürfnis nach Macht auch ein ethisches Element der Selbstbeschränkung sowie das Bedürfnis nach Leistung und sozialer Bindung aufweisen.

Neben der Ethik der Machthaber gilt es noch einen weiteren Aspekt zu beachten: die Ansprüche der Anhänger. Führungskraft besteht aus einer Kombination von Charaktermerkmalen der Führungsperson, den Forderungen der Anhänger und dem Kontext, innerhalb dessen sie interagieren. Eine um ihre Geltung besorgte russische Öffentlichkeit; wegen grassierender Korruption beunruhigte chinesische Bürger; eine hinsichtlich ethnischer Zugehörigkeit und Religion gespaltene türkische Öffentlichkeit – sie alle schaffen ein Umfeld für Führungspersönlichkeiten mit einem psychologischen Bedürfnis nach Macht.

In ähnlicher Weise bauscht auch Trump in seinem narzisstischen Machtbedürfnis die Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung durch geschickte Manipulation von Fernsehnachrichtensendungen und sozialen Medien auf.

Hier spielen Institutionen eine maßgebliche Rolle. In den frühen Tagen der USA erkannten James Madison und andere Väter des neuen Staates, dass es sich weder bei den Führungspersonen noch bei ihren Anhängern um Engel handelt, und dass Institutionen konzipiert sein müssen, um Macht einzuschränken. Aus ihren Studien der antiken römischen Republik zogen sie den Schluss, dass es eines institutionell verankerten Rahmenwerks der Gewaltenteilung und eines Ausgleichs zwischen den Fraktionen bedurfte, um anmaßende Führer wie Julius Cäsar zu verhindern.

Gegenseitige Kontrollen

Madisons Antwort auf die Möglichkeit eines „amerikanischen Mussolini“ war ein System gegenseitiger Kontrollen – checks and balances– das sicherstellen sollte, dass die USA niemals so werden würden wie Italien 1922 – oder wie Russland, China und die Türkei von heute.

Amerikas Gründerväter rangen mit dem Dilemma, wie viel Macht das Staatsoberhaupt haben soll. Ihre Antwort zielte darauf ab, die Freiheit zu wahren und nicht die Effizienz der Regierung zu steigern. Zahlreiche Kommentatoren beklagen den institutionellen Niedergang, während andere auf Veränderungen wie den Einzug des Reality-TV und der sozialen Medien hinweisen, die die Qualität des öffentlichen Diskurses vulgarisieren.

Noch heuer werden wir möglicherweise sehen, wie widerstandsfähig das von den Gründervätern ersonnene Rahmenwerk für Macht und Führungskraft wirklich ist.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Copyright: Project Syndicate, 2016.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Joseph S. Nye (geboren 1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993–94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994–95).Sein jüngstes Buch: „Is the American Century Over?“ Zuletzt war er Ko-Vorsitzender einer Diskussionsrunde
der Aspen Strategy Group zum Thema „Islamischer Staat“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.